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Jugendgruppen

Die 1920er Jahre waren ein Jahrzehnt aufstrebender Jugendgruppen und von deren Organisationen. Ob konfessionell, politisch oder bündisch orientierte Gruppen: sie nahmen erheblich an Größe zu, gewannen deutlich an Selbstvertrauen und traten mit Beginn der 1930er Jahre zunehmend formiert und uniformiert auf. Nach 1933 beanspruchte dann die Hitlerjugend den Alleinvertretungsanspruch für den Jugendbereich, während alle anderen Gruppierungen nach und nach verboten wurden. Das rief schließlich – und besonders im Krieg - die Gruppen unangepasster Jugendlicher auf den Plan.

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Nerother Wandervogel

Die Gründung des Nerother Wandervogels erfolgte auf Initiative von Robert Oelbermann, der mit der Nachkriegssituation im Wandervogel unzufrieden war.[1] Am 31. Dezember 1919 trafen sich acht Angehörige des Wandervogel e.V. in der Mühlsteinhöhle am Nerother Kopf bei Neroth in der Vulkaneifel und gründeten unter Führung Oelbermanns den Ritterbund der Nerommen, der 1920 die Burgruine Waldeck im Hunsrück als „Rheinische Jugendburg" auswählte und zum Bundessitz erklärte. Nachdem zunächst der Altwandervogel die neue Heimat der Nerommen geworden war, kam es 1921 zur Trennung und im März zur Gründung des „Nerother Wandervogels - Deutscher Ritterbund". 1922 wurde die Burgruine Waldeck käuflich erworben und zur Jugendburg ausgebaut.

Noch 1921 begannen die traditionellen Auslandsfahrten, die schon ab 1925 auch über die Grenzen Europas hinausführten und die Nerother in Kreisen der Bündischen Jugend bekannt und beliebt machten. So bereisten sie in den Jahren zwischen 1925 und 1933 Länder wie Ägypten, Indien/Tibet, Ceylon, Russland, Nord-, Mittel- und Südamerika, Japan, Korea und China.[2]

Der Nerother Wandervogel der Weimarer Jahre war aristokratisch strukturiert, wobei der Bundesführer auf Lebenszeit gewählt wurde. Er bildete jeweils aus Führern seines Vertrauens („Bundesritter") das Ritterkapitel. Insbesondere die äußere Organisationsstruktur unterschied sich von den meisten anderen Bünden. So gab es keine regionale Untergliederung, sondern die Gruppen fanden sich in autonomen „Orden" zusammen, die wiederum aus einzelnen „Fähnlein" bestanden und jeweils ein eigenständiges, von Gruppenleitern und Mitgliedern abhängiges Profil aufwiesen. Angesiedelt waren die Nerother vor allem im Rheinland, am Niederrhein, in Düsseldorf und in Mönchengladbach.[3] Das Bundesleben spielte sich hauptsächlich in der Ruine der Burg Waldeck ab. [4]

Die inhaltliche Ausrichtung der Nerother Wandervögel wurde durch die so genannten „Weistümer" bestimmt, in denen für den Bund elementare Werte und Einstellungen zusammengefasst waren. Sie fußten stark auf elitären Weltvorstellungen, wobei bei der Wahl der Mitglieder aber bis 1933 nicht streng nach solchen Kriterien gehandelt wurde.

Der Bund zählte nie mehr als 1.000 Mitglieder, was nicht zuletzt mit seiner distanzierten Haltung gegenüber anderen Bünden zusammenhing. Aber auch durch die ausgiebigen Fahrten und Reisen, die in der Regel durch Straßenmusik und Lichtbildvorträge finanziert wurden, haftete den Nerothern ein etwas exotischer Charakter innerhalb der bündischen Welt an.

Trotz aristokratischer und rückwärtsgewandter Struktur sowie einer dezidierten Frauenfeindlichkeit kam eine völkische Gesinnung in Reihen der Nerother nicht eindeutig und explizit zum Ausdruck. Allerdings gibt es Hinweise darauf, dass innerhalb des Bundes - wie in großen Teilen der Bündischen Jugend überhaupt - eine „kerndeutsche Gesinnung"[5] vorherrschte. Andererseits waren die oft monate- oder jahrelangen Auslandsfahrten nur bedingt im Sinne völkischer Überzeugungen. [6]

Dennoch gab es aus den Reihen des Nerother Wandervogels zunächst durchaus deutliche positive Bekundungen für den Nationalsozialismus. So teilte Karl Oelbermann - Bundesführer und wie sein Bruder Robert Gründungsmitglied des Bundes - dessen Mitgliedern im März 1933 in einem Rundschreiben vollmundig mit: „Unsere großen Feuer brannten nicht umsonst. Unser jugendliches Streben fand in diesen großen Tagen seine Erfüllung. Wir waren und sind die ‚gewappnete Schar', auf die sich das neue Deutschland auch in Zukunft voller Vertrauen verlassen kann." Adolf Hitler selbst, so hieß es weiter, habe Angriffe auf die Nerother untersagt, da er in ihnen seine „besten SA- und SS-Führer" ausgemacht habe. „So wie damals Robert unser Führer war, hat heute unser geliebtes Deutschland in Adolf Hitler seinen Führer gefunden. Wir bekennen uns zu ihm und zu seinen Fahnen."

Zu diesem Zeitpunkt gingen die Oelbermanns und mit ihnen zahlreiche Nerother wohl noch davon aus, dass der Bund im NS-Staat als Führungselite in oder neben der Hitlerjugend Bestand haben würde, denn es gab intern zwar sehr unterschiedliche Haltungen gegenüber dem Nationalsozialismus, doch stand die Mehrheit der Führer dem neuen Regime zunächst klar positiv gegenüber.[7]

Das Ende kam jedoch schnell und gewalttätig. Am 18. Juni 1933 wurde Burg Waldeck von HJ, SA und SS besetzt, woraufhin Karl Oelbermann, der seinen seit 1931 auf Weltreise befindlichen Bruder Robert als Bundesführer vertrat, den Nerother Wandervogel am 22. Juni 1933 für aufgelöst erklärte. Auch wenn der kurze Zeit später zurückkehrende Robert diesen Beschluss zunächst rückgängig machte, kam es zur Jahreswende 1933/34 zur endgültigen Auflösung.

Schon Karl Oelbermann hatte den Fähnleinführern des Bundes nahegelegt, mit ihren Gruppen geschlossen in die Hitlerjugend überzutreten. Vor allem in den Spiel- und Singscharen der Hitlerjugend waren in der Folgezeit viele ehemalige Nerother anzutreffen.[8] Andere Gruppen und Mitglieder sahen sich dagegen weiterhin in bündischer Tradition und lehnten, nachdem klar war, dass sich die Verwirklichung ihrer Ideale der jugendlichen Autonomie und Selbstverantwortung im neunen Staat nicht realisieren ließen, jede Kooperation mit der HJ ab. Sie blieben vielfach in ihren Gruppen illegal zusammen und trafen sich zum Teil bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs zu Heimabenden und Fahrten. An einigen Orten entstanden in dieser Zeit sogar neue Gruppen, nach denen seitens der Gestapo und des Sicherheitsdienstes der SS gefahndet wurde. Nachweislich gab es solche Gruppen in Moers, Viersen, Kempen, Rheydt, Oberhausen, Lüdenscheid, Solingen, Koblenz und Wiesbaden. [9]

Nach der offiziellen Auflösung des Nerother Wandervogels blieb zunächst der Jugendburgbund der Burg Waldeck bestehen, der sich 1934 in „Arbeitsgemeinschaft Burg Waldeck" umbenannte und versuchte, das Bundeseigentum  vor dem Zugriff der NS-Organisationen zu retten.1935 musste sich dann aber auch die Arbeitsgemeinschaft auflösen, woraufhin das Grundvermögen der Burg gegen Übernahme der Schulden auf die Brüder Oelbermann übertragen wurde.[10]

Robert Oelbermann geriet wegen des Vorwurfs „homosexueller Verseuchung"[11] ins Visier der Gestapo und wurde im Februar 1936 als „Staatsfeind" verhaftet und nach einjähriger Untersuchungshaft zunächst ins Konzentrationslager Sachsenhausen, dann in jenes in Dachau eingewiesen, wo er 1941 umgebracht wurde. Sein Bruder Karl kehrte erst in den 1950er Jahren aus Afrika zurück und wurde neuerlich zum Bundesführer.[12]

Fußnoten

[1] Vgl. auch zum Folgenden http://de.wikipedia.org/wiki/Nerother_Wandervogel (eingesehen am 28.9.2011)
[2] Vgl. http://www.nerother-wandervogel.de/mehr1921.html (eingesehen am 26.1.2011).
[3] Vgl. Hellfeld, Bündische Jugend, S. 44
[4] Vgl. Hellfeld, Mythos, S. 77
[5] Zitiert nach Hellfeld, Bündische Jugend
[6] Vgl. Hellfeld, Bündische Jugend, S. 44
[7] Vgl. Hellfeld, Bündische Jugend S. 82. Dort auch das Zitat.
[8] Vgl. Hellfeld, Bündische Jugend, S. 107f.
[9] Vgl. Hellfeld, Bündische Jugend, S. 161
[10] Vgl. http://www.nerother -wandervogel.de/mehr1933.html, 26.1.2011
[11] Vgl. Hellfeld, Bündische Jugend, S. 209
[12] Vgl. Hellfeld, Bündische Jugend, S. 44.