Die Schule war bis 1933 neben der Familie der unumstrittene Ort kindlicher und jugendlicher Erziehung und Ausbildung. Mit der NS-Machtübernahme wurde hier allerdings nicht mehr nur unterrichtet, sondern häufig auch massiv ideologisch beeinflusst. Außerdem versuchten die Nationalsozialisten zunehmend verschiedene Formen von Lagererziehung zu etablieren, in deren Rahmen eine Indoktrination und Wehrerziehung noch effektiver möglich war. Im Krieg wurden die so beeinflussten Heranwachsenden dann zunehmend zu Kriegshilfsdiensten der unterschiedlichsten Art herangezogen.
Der bekannteste Lieddichter der HJ war zweifellos Hans Baumann. Während andere Dichter und Komponisten deutliche thematische und stilistische Vorlieben hatten (Werner Altendorf beispielsweise für kämpferische Lieder, Heinrich Spitta für feierliche und Georg Blumensaat für Marschlieder), konnte Baumann Gebrauchsmusik für alle Gelegenheiten komponieren: Morgenlieder, Abendlieder, Marschlieder, Weihnachtslieder, Ostlandlieder, Vaterlandslieder, Soldatenlieder etc. Eingängig in Text und Melodie verbreiteten sie sich in kürzester Zeit in allen HJ-Einheiten. Als „Künder der jungen Generation" wurde er in einem zeitgenössischen Artikel bezeichnet. Sein Schaffen sei aus einer „echt nationalsozialistischen Denk- und Geistesrichtung" heraus erwachsen, die keine Trennung von Politik und Kunst kenne. Seine Lieder „künden von einer echten, von innen geformten Haltung, die begeistert und mitträgt" und aus denen „eine heiße, glühende Liebe für Deutschland" hervorgehe. Sie sprächen das „'Wir' der Gemeinschaft" N, das aufrichte, stärke, Kraft gebe und erbaue.[1]
Baumann, der 1914 in Amberg geboren wurde, hatte seine ersten Lieder bereits im katholischen Schülerbund Neudeutschland geschrieben, wo er von 1926-32 Mitglied war, darunter das berühmt-berüchtigte Es zittern die morschen Knochen:
In der HJ, in die Baumann 1933 eintrat (1934 wurde er in die Reichsjugendführung berufen[3]), machte dieses Lied dann schnell eine beeindruckende Karriere. Bald sangen es nicht nur die HJ-Einheiten, sondern auch SA, Reichsarbeitsdienst und Wehrmacht. Obwohl es ursprünglich nicht imperialistisch gemeint war, sondern aus einem gewissen jugendlichen Übermut entstanden war, wurde es bald in diesem Sinn gesungen. Da nützte es auch nichts, dass Baumann etwa 1936 die Zeile „und heute gehört uns Deutschland" in „und heute da hört uns Deutschland" umänderte.[4] An der Bedeutung, die dem Lied beigemessen wurde, konnte das nichts ändern - es galt nach wie vor als aggressiv, und zwar in einem Maße, dass selbst die Reichsjugendführung das Lied trotz seines hohen Bekanntheitsgrades nicht in Wir Mädel singen und Unser Liederbuch, die beiden offiziellen Liederbücher für BDM und HJ, aufnahm (in anderen HJ-Publikationen war es allerdings nach wie vor zu finden). Nach 1945 waren die „morschen Knochen" dann geradezu ein Synonym für das Singen in der NS-Zeit und wurden bei den Nürnberger Prozessen als Beweismaterial für die kriegerische Haltung Deutschlands und die militaristische Erziehung der HJ herangezogen.
Die übrigen Lieder von Hans Baumann sind deutlich weniger aggressiv und kommen vielfach ausgesprochen munter und fröhlich daher - so fröhlich, dass sie fast überdecken, wie stark ideologisch geprägt sie sind. Das Lied Und die Morgenfrühe beispielsweise ist in der Erinnerung vieler Zeitzeugen als ausgesprochen beliebtes Tageszeitenlied abgespeichert. Dabei zeigt ein genaueres Lesen, dass es darin vor allem um eine Glorifizierung der bäuerlichen Arbeit geht und zwar der Arbeit, wie sie im Landjahr oder bei einem Ernteeinsatz von einer Gruppe junger Leute geleistet wird. Also kein realistisches Bild des harten bäuerlichen Lebens, sondern des ideologisch motivierten Einsatzes von Jugendlichen:
Andere Lieder Baumanns benennen wichtige ideologische Schlagwörter aber auch ganz konkret, etwa wenn er die Treue zu „einem Heer und einer Fahne" in Kameraden fragen nicht lange: woher? beschwört.[6] Wenn er in Nun laßt die Fahnen fliegen einem übersteigerten Nationalbewusstsein und einer Todesbereitschaft das Wort redet mit einer Zeile wie „Deutschland, sieh uns, wir weihen dir den Tod als kleinste Tat."[7] Wenn er in Horch auf, Kamerad die Revisionspolitik mit den Worten anmahnt: „Kamerad, wir müssen die Festung sein, denn sie haben uns alles genommen. Kamerad, wir müssen die Kugeln sein, die über die Räuber nun kommen."[8] Oder wenn er dem nationalsozialistischen Mütterkult in Hohe Nacht der klaren Sterne huldigt, das zu dem NS-Weihnachtslied schlechthin wurde:
[1] Vgl. Bertlein, Hermann: Hans Baumann, der Künder der jungen Generation, in: Die deutsche Schulfeier 4, 1939, S. 126-132.
[2] Baumann, Hans: Unser Trommelbube, Potsdam 1934, S. 14f.
[3] Vgl. Kelbetz, Ludwig: Hans Baumann als Komponist der Hitlerjugend, in: Zeitschrift für Musik 105, 1938, S. 1101.
[4] Vgl. Mogge, Winfried: „Und heute gehört uns Deutschland ..." Karriere und Nachwirkungen eines Liedes 1933-1993, in: Kultur und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland. Eine Festschrift zum 65. Geburtstag von Arno Klönne, hg. von Peter Ulrich Hein und Hartmut Reese, Frankfurt/M. 1996, S. 103.
[5] Baumann, Hans: Der helle Tag, Potsdam 1938, S. 3.
[6] Vgl. Baumann, Hans: Unser Trommelbube, Potsdam 1934, S. 18.
[7] Unser Liederbuch. Lieder der Hitler-Jugend, hg. von der Reichsjugendführung, München 1939, S. 30.
[8] Baumann, Hans: Unser Trommelbube, Potsdam 1934, S. 16.