„Wir hatten nichts, keinen Teller, keine Tasse, kein Garnichts.“ - In Garzweiler

„Wir kamen am Dienstag, den 4. Juni 1946 in Jüchen am Bahnhof an und wurden von Rudi Wuttke mit Pferd und Wagen abgeholt“, konnte sich Alfred Müller zeitlebens gut erinnern. Vom Bahnhof aus geht es nach Garzweiler, wo die Müllers in der Mausgasse in einen kleinen ehemaligen Stall einziehen. Elisabeth Schütte kann sich noch gut an die Unterbringung erinnern. „Dort hatte man für die Fremdlinge nur einen Stall als Unterkunft zur Verfügung. In der Mitte war ein Gang, rechts und links zwei Boxen für die Tiere und dazwischen die Ablaufrinnen für den Urin der Tiere.“ Toilette oder zumindest einen Wasseranschluss sucht man vergebens.

Angesichts solcher Zustände ist die Enttäuschung zunächst groß, wird aber bald von anderen Gefühlen in den Hintergrund gedrängt. Elisabeth Schütte berichtet: „Ich weiß noch, dass ich dankbar empfand, dass wir alle vier noch lebten und beisammen waren und dass wir in Freiheit waren.“ „Freiheit“ ist nun auch im Westen der Begriff, um den sich für sie alles dreht. Sie habe diese Freiheit als gerade erst 12-Jährige überaus stark empfunden. „Sie war für mich das wichtigste Gut.“ Dabei meine sie, wie sie ausdrücklich betont, „nicht die Freiheit, wie man sie heute versteht, frei von Vorschriften und Bevormundung Erwachsener zu sein und tun zu können, was einem passt, selbst wenn es dem anderen wehtut oder die Freiheit des anderen einschränkt“. Nein, sie „meine und schätze die Freiheit über alles, nicht mehr der Willkür von Menschen ausgesetzt zu sein, die den anderen missachten, ihn bösartig quälen und ängstigen, ja nach Belieben töten können. Ich meine die Freiheit, nachts schlafen zu können, ohne auf der Lauer zu liegen, dass Fremde an die Tür pochen und mein Leben bedrohen. Ich meine die Freiheit, denken und sagen zu können, was ich denke, ohne in ständiger Angst zu leben vor Diktatoren und Despoten. Diese Freiheit ist mir mehr wert als alles Hab und Gut, das, wie ich ja erfahren hatte, einem restlos genommen werden konnte“.

Insofern nehmen die Müllers auch die überaus bescheidene Wohnsituation klaglos hin, zumal sie nach einigen Monaten den Stall gegen zwei kleine niedrige Dachgeschosszimmer tauschen können, in denen die vierköpfige Familie dann zehn Jahre lebt. - „Nachmieter“ der Stallräume in der Mausgasse wird im Übrigen bald danach Familie Beulen und schließlich Familie Kusch, deren jeweiliges Schicksal hier ebenfalls nachzulesen ist.

Eine Beschäftigung finden Paul und Maria Müller durch Vermittlung von Rudi Wuttke auf dem Hof Welter in Garzweiler. Die Entlohnung ist allerdings mehr als mäßig und besteht vorwiegend aus Naturalien. „Beide Eltern haben gearbeitet und geschuftet, als wenn es ihr Eigenes wäre, im Haus und Garten und überall für das Essen für sich und ihre beiden Kinder.“ Die Familie verfügt zudem über keinerlei Eigentum. „Wir hatten ja nichts, keinen Teller, keine Tasse, kein Garnichts“, umreißt Elisabeth Schütte die schwierige Ausgangslage. Auch Bettzeug, Decken und andere Güter des täglichen Gebrauchs fehlen völlig. Dabei sind die Müllers gänzlich auf private Unterstützung angewiesen. „Da ist uns von der Gemeinde garnichts gegeben worden. Das mussten wir im Laufe der Zeit alles beschaffen.“

 

Als Glücksfall erweist sich hierbei das kinderlose Ehepaar Bischof. Es nimmt die Müllers kostenlos im ungenutzten Dachgeschoss ihres kleinen Häuschens in der Vikariestraße 123 auf und unterstützt sie, so gut eben möglich. Vor allem aber pflegen die beiden älteren Garzweiler einen freundlichen Umgang mit den Neuankömmlingen.

Die Inhaber des Hofes, auf denen das Ehepaar Müller Arbeit gefunden hat, verhalten sich leider nicht ganz so nett. Obwohl beide ganztags mit voller Kraft arbeiten, bleibt es zwei Jahre lang bei einer kargen Entlohnung mit Nahrungsmitteln. Weil Geld bis zur Währungsreform im Juni 1948 einen eher geringen Stellenwert hat, fällt diese Form der Ausbeutung zunächst nicht zu sehr ins Gewicht. Aber auch nach dem Währungsschnitt zahlt der Arbeitsgeber weiterhin keinen Lohn. Weil es Paul Müller offenbar zu peinlich ist, wegen einer Bezahlung nachzufragen, dauert es bis Ende 1948, ehe eine seiner Schwestern – „Tante Mary“ - aus Hamburg anreist und angesichts der unhaltbaren Zustände das Gespräch mit dem Bauern sucht. Von diesem Zeitpunkt an erhält das Ehepaar Müller für die harte Arbeit von zwei Personen den äußerst geringen Lohn von 60 RM pro Monat.

 

Die beiden zehn bis zwölf Quadratmeter kleinen Zimmerchen unter dem Dach, in denen die Müllers die nächsten zehn Jahre im Haus von Familie Bischof verbringen, lassen kaum Raum zur Entfaltung und bieten zudem keinerlei Privatsphäre. Eines der Zimmer wird zum Kochen, Essen und Wohnen genutzt, das andere als Elternschlafzimmer. „Wir haben auf dem Flur geschlafen“, erzählt Elisabeth Schütte. „Mein Bruder und ich stießen, als wir größer wurden, an die niedrige Balkendecke mit den Köpfen an, wenn wir nicht aufpassten. Die Toilette befindet sich unten auf dem Hof, ein Bad gibt es nicht. Die einzige Waschgelegenheit befindet sich in der Küche. Elisabeth Schütte erinnert sich allerdings nur vage und räumt ein, dass sie Einzelheiten an die Unterkunft trotz zehnjährigen Aufenthalts wohl weitgehend verdrängt habe. Die Unterbringung empfinden die Müllers aber insbesondere deshalb als nicht so schlimm, weil „die Hauseigentümer sehr liebe Menschen waren“. Ohnehin sind alle Blicke mehr und mehr auf die Zukunft gerichtet: „Es war eine sehr armselige Zeit, die nun folgte, aber langsam und allmählich ging es aufwärts.“

Eine größere Wohnung habe man sich aber weiterhin selbst dann nicht leisten können, wenn eine solche auf dem Wohnungsmarkt verfügbar gewesen wäre. „Die hätte mein Vater gar nicht bezahlen können“, ist sich Elisabeth Schütte sicher. Der komplette Besitz war mit dem Hof in Steinsdorf und seinen Feldern und Tieren unwiederbringlich verloren gegangen. Erst „sehr, sehr viel später“ habe ihr Vater im Rahmen des Lastenausgleichs eine recht geringe Zahlung erhalten.