Seit dem 13. Juni 1946 besuchen Elisabeth und ihr Bruder Alfred nach mehr als anderthalbjähriger Unterbrechung endlich wieder die Schule. In der Garzweiler Volksschule, so erinnert sie sich, sei sie „gut“ aufgenommen worden. Mit den Mitschülern und Mitschülerinnen habe es kaum Konflikte gegeben. Das Problem sei eher der – bereits erwähnte –Lehrer gewesen, der aufgrund seiner unmittelbar bevorstehenden Pensionierung offensichtlich keine Lust mehr gehabt habe, den Kindern etwas beizubringen. Elisabeth und Alfred finden jedenfalls schnell Anschluss und schließen Freundschaften.
Angesichts der zwischen 1944 und 1946 verlorenen Schuljahre, den wirtschaftlichen Engpässen im Elternhaus und mit Blick auf den Status als „Flüchtling“ sind die Perspektiven für die Müller-Kinder nicht eben günstig. Sie und ihr Bruder, so erzählt Elisabeth Schütte, seien „Kinder armer Eltern“ gewesen, die aufgrund der Vertreibung „nichts mehr hatten“. Diese soziale Benachteiligung droht trotz allen Bildungshungers ihr ganzes weiteres Leben zu bestimmen, denn in Garzweiler geht man offenbar davon aus, dass sie nach Abschluss der Volksschule für den lokalen Arbeitsmarkt verfügbar ist. Sehr bald hätten Interessenten bei ihren Eltern angefragt, ob die Tochter nicht als Haushaltshilfe bei ihnen arbeiten könne. „Ich habe zu meinem Vater gesagt: ‚Ich möchte lernen.‘“ Zu ihrem Glück unterstützen Ihre Eltern ihren Bildungsdrang, womit sich für Elisabeth die Chance eröffnet, ab 1950 die zweijährige Handelsschule in Rheydt zu besuchen. „Und das war mein Glück, denn da habe ich im Grunde alles gelernt, was ich weiß.“
Während der zweijährigen Schulzeit schließt Elisabeth die Defizite der schullosen Zeit - insbesondere in der Rechtschreibung haperte es erheblich – und arbeitet unermüdlich. „Ich habe bis in die Nacht hinein gelernt und war dann eine der besten Schülerinnen da.“ Wichtig bei allem Streben und Arbeiten ist das ausgesprochen gute Verhältnis zu den Eltern. „Die Eltern waren zu uns Kindern sehr gut. Das machte es aus. Wir haben ein gutes, harmonisches Verhältnis gehabt.“ Auf allen Gebieten finden sie Unterstützung und insbesondere die „unheimlich mitfühlende“ Art ihres Vaters hilft Elisabeth in kritischen Situationen. „Der konnte sich mit uns freuen und auch mal mit uns mitleiden, wenn irgendetwas war.“
Arbeit, Lernen und Ehrgeiz sollen sich bald auszahlen. Nach Abschluss der Handelsschule findet Elisabeth Schütte schnell eine Anstellung in der Stadtverwaltung Mönchengladbach. Als man dort bemerkt, „dass ich nicht dumm und auch fleißig war, hat man mir den Posten als Sekretärin beim Oberbürgermeister gegeben“. Sie sei eben immer schon lern- und wissbegierig gewesen, und das habe sich bei ihr lebenslang fortgesetzt. Diese positive Sicht wird auch dadurch nicht beeinträchtigt, dass Elisabeth der Weg zu Abitur und Studium wegen des zu zahlenden Schulgeldes verwehrt bleibt. „Das hätte mein Vater ja nicht aufbringen können.“ Dafür habe sie das große Glück gehabt, in einer intakten Familie aufwachsen zu können.
1956 kann es sich Familie Müller aufgrund der Berufstätigkeit von Elisabeth endlich leisten, die enge Dachgeschosswohnung in Garzweiler zu verlassen und in eine neue Dreizimmer-Wohnung in Rheydt umzuziehen. Bruder Alfred, gerade frisch in eine Garzweilerin verliebt, bleibt dort zurück, heiratet und wird zum „echten“ Niederrheiner.