Das Vorhaben
Die von der Forschung beklagten Lücken lassen sich zumindest für einen wichtigen Teilbereich ein gutes Stück weit schließen. Hierzu drängen sich die bereits von Rolf Schörken benutzten Lebensläufe und Aufsätze von Abiturienten geradezu auf. Diese unter stets vergleichbaren Bedingungen entstandene zentrale serielle Quelle ist bislang weitestgehend vernachlässigt worden, und auch Schörken selbst hat das entsprechende Material „seines“ alten Gymnasiums lediglich kursorisch gesichtet und aus Mangel an Zeit- und Arbeitskapazität auf eine systematische Erfassung und Auswertung verzichten müssen. Das aber heißt nichts anderes, als dass in städtischen und Schularchiven noch zahlreiche dieser bedeutsamen und aussagekräftigen Materialien lagern, die es zu sichern und zugänglich zu machen gilt.
Diese Feststellung beschränkt sich aber keineswegs auf die Unterlagen aus den Jahren nach 1945. Um der Frage einer eventuellen „Gegensozialisation“ gezielt und auf möglichst breiter Grundlage nachgehen zu können, muss auch der entsprechende Kenntnisstand erarbeitet werden, um so die verschiedenen Formen von Sozialisation während der NS-Zeit verlässlich interpretierbar zu machen. Und schließlich müssen, um auch diese seriös analysieren zu können, die Bedingungen nachvollziehbar aufgearbeitet werden, unter denen Jugendliche unmittelbar vor dem Beginn der nationalsozialistischen Diktatur aufwuchsen und erzogen wurden.
Daher wird sich das hier präsentierte Projekt – bislang beispielhaft beschränkt auf das Kölner Dreikönigsgymnasium (DKG) für Jungen und die Kaiserin-Augusta-Schule für Mädchen – eben nicht nur auf die Nachkriegsjahre von 1946 bis 1952 konzentrieren, sondern auch – mit Zeitschnitten in den Jahren 1931 bis 33, 1937 und 1938 sowie 1941 bis 19 44 – die Endphase der Weimarer Republik sowie die Zeit des Nationalsozialismus mit einbeziehen. Für letztere wurden zwei Erhebungszeitpunkte ausgewählt: Die Abiturienten der Jahre 1937 und 1938 hatten ihre frühe Sozialisation noch vor 1933 erlebt, während jene der Abitur- bzw. Entlassungsjahrgänge von 1941 bis 1944 zum einen ihre gesamte Schulzeit unter NS-Bedingungen absolviert, zum anderen aber auch bereits eine relativ lange und zunächst auch „erfolgreiche“ Phase des Zweiten Weltkriegs erlebt hatten. Hinzu kommen dann die Selbstdarstellungen Schulabgänger der ersten Nachkriegsjahre. Auch diese müssen nochmals in zwei Gruppen zu unterteilen: einmal jene, die noch eigene konkrete Kriegserfahrungen sammeln mussten und danach bis 1948/49 in sogenannten „Sonderlehrgängen“ nachträglich ihr Abitur ablegten, und dann jene, die von 1949 bis 1952 dann nach der einschneidenden Währungsreform und der Gründung der Bundesrepublik als „normale“ Abiturienten ihre schulische „Reife“ unter Beweis stellten.
Durch eine derart breite Quellengrundlage werden nicht nur aussagekräftige Materialien zur Erforschung von Verhalten, Einstellungen und Selbsteinschätzung der Jugendgeneration der Nachkriegszeit aufzubereiten, sondern Wissenschaft und Forschung zugleich sehr viel weitergehende Interpretationsinstrumente an die Hand gegeben. Erst durch die Einbeziehung der Endphase der Weimarer Republik und insbesondere der Zeit des Nationalsozialismus selbst werden – so steht zumindest zu vermuten – die Beeinflussungen und Verwerfungen greif- und nachvollziehbar, denen die Jugendlichen in diesen unruhigen Zeiten ausgesetzt waren. Und erst eine hierauf aufbauende, sich über 20 Jahre und drei politische Systeme erstreckende Analyse von deren Verhalten wird Aufschlüsse darüber liefern können, wie sich die vielfältigen Mechanismen von Erziehung, Manipulation und Propaganda auf eine ganze Generation auswirkten.
Außerdem möchte diese digitale Edition die Möglichkeit eröffnen, auch die übergreifende Fragestellung eines eventuellen Zusammenhangs zwischen gravierenden Umbrüchen der politischen Systeme und einer daraus resultierenden Veränderung der Mentalitäten zu untersuchen.