Ernst Loewy an seine Eltern, 8. Mai 1936

Kirjat Anavim, den 8.5.36.

Meine Lieben!

Heute erhielt ich die Karte Nr. 9 vom 28., den Brief Nr. 10 vom 30. und Deinen Brief, lb. Pips vom 28. aus Geseke. Vielen, vielen Dank, auch für die Antwortscheine. Habt Ihr von mir bisher mit diesem Brief 8 Briefe und eine Karte bekommen, der erste Brief ist vom 28.3. aus Split? Einen Brief, ich glaube vom 13.4., habt Ihr nicht erwähnt.

Lieber Pips, Du fragst, wie das innere Leben der Kwuzah ist. Ich wollte noch nicht früher darüber schreiben, ich wollte erst einmal ein paar Wochen hier sein, um Euch richtig darüber schreiben zu können. Nun bin ich schon fünf Wochen hier und habe das innere Leben der Kwuzah schon einigermassen kennen gelernt und will Euch nun darüber schreiben. Über das ganze innere Leben der Kwuzah bin ich persönlich äußerst enttäuscht. Die Menschen, die hier leben, sind reine Proletarier, die weiter nichts kennen als nur ihre Arbeit, das Essen und das Schlafen - an geistigen Dingen haben sie nicht das geringste Interesse. Am Tag arbeitet man, nachts schläft man, und am Schabbat geht man spazieren. Mit geistigen Dingen beschäftigt man sich nicht. Es gibt keine Vorträge, man liest keine Bücher. Hier ist das reinste Proletariat. Das zeigt sich in vielen Dingen. Über das geistige habe ich schon geschrieben, dann das allgemeine Leben - die Menschen hier haben einen sehr, sehr kleinen Lebensstandard. Man ist mit dem Geringsten hier zufrieden. Anstatt sich das Leben hier einigermaßen angenehm zu gestalten, legt man jeden Piaster fort. Daß die Kwuzah reich ist, davon sieht man nicht das geringste, wenn man sieht, wie hier mit allem gegeizt wird. Einmal jährlich darf jeder ins Kino gehen, drei Marken bekommt hier jeder monatlich, zwei paar Strümpfe darf jeder in der Woche tragen, u. so vieles mehr.

Seit Jahren schon hat man vor einen ordentlichen Essraum zu bauen. Vorläufig hat man hier eine armselige Holzbaracke. Ebenso ist es mit den Werkzeugschuppen und vielem andern mehr. Es ist von

den Chawerim zu verstehen, wenn sie etwas neidisch auf uns sind, die wir es besser haben. Dauernd hält man uns vor, wenn man einmal einen kleinen Wunsch hat (z. B. mehr Briefmarken zu bekommen) „Wie wir herkamen, da haben wir's ganz anders gehabt als Ihr”. Das wissen wir doch, und Ihr könnt Euch denken, dass es nicht schön ist, immer so etwas zu hören. Dann die Politik, die diese Leute treiben, paßt uns gar nicht. Ich schrieb Euch von einer erste-Maifeier. Ich glaube, dass es Euch genügt, wenn ich schreibe, daß im Essraum ein Transparent gehangen hat mit der Aufschrift: [poale kol ha-arazot hitachdu!]
d. h. auf Deutsch: Arbeiter aller Länder vereinigt Euch!

Wir haben an der Feier nicht teilgenommen, obwohl man unseretwegen auf die „Internationale“ verzichten wollte, die man sonst zu singen pflegt. Über die religiöse Einstellung der Kwuzah schrieb ich Euch schon vorher. Nun über das Familienleben. Es ist ganz natürlich, dass das Familienleben in der Kwuzah nicht das beste ist. Der Mann und die Frau sind fast nie zusammen. Eine eigentliche Familie gibt es kaum, Familie ist eben die ganze Kwuzah. Leider ist es wahr, lb. Pips, was Du mir vorher schon einmal sagtest, dass die Moral in der Kwuzah nicht allzu gut ist. Häufig wird hier die Hochzeit und Brith-Milah an demselben Tag gefeiert, wie Leute aus der Kwuzah selbst gesagt haben.

Nun zur Hauptsache: meiner Ansicht nach ist das Leben in der Kwuzah sehr unfrei, der einzelne Mensch hat keinen eigenen Willen mehr; was er tut, ist alles nur für die Kwuzah. Persönliches und Privates, soweit es das überhaupt gibt, kommt immer weit nach dem Allgemeinen.

Ich glaube, dass der Mensch auch persönliche Ziele haben muss, und dieses gibt es in der Kwuzah nicht, es gibt nur eine Gemeinschaft. Um einmal zusammenzufassen - In der Kwuzah gibt es weder Freiheit noch Eigentum - nur einige Rechte (z. B. 3 Marken monatlich),

viele Pflichten und noch mehr Verzichte. Ich muss Euch leider sagen, dass mir das Leben in einer Kwuzah nicht gefällt.

Für uns natürlich ist es etwas anderes - wir sind noch jung und haben es sehr gut hier - viel besser als die Chawerim der Kwuzah. Wir sind wie in einer Schulklasse - allerdings in einer Schulklasse von Freunden. Dass ich aber nicht mein ganzes Leben in einer Kwuzah bleibe, dessen bin ich mir schon jetzt ziemlich sicher, nicht das Landleben ist es, welches mir nicht gefällt, sondern das Leben in diesen Formen.

Eigentlich wollte ich noch ein wenig damit warten Euch über diese inneren Zustände der Kwuzah zu schreiben. Ich wollte sie erst einmal sehr gründlich kennenlernen - aber, da Du, lieber Vater, mich darum gebeten hattest zu schreiben, und ich glaube, dass ich in den fünf Wochen von den inneren Zuständen schon genug gesehen habe, schrieb ich Euch jetzt schon davon. Ich habe in der Zeit jedenfalls unbedingt schon soviel gesehen, um mir von all dem ein Urteil bilden zu können. Leider fällt dieses Urteil sehr ungünstig aus. Übrigens bin ich nicht der einzige, der in diesen Dingen so denkt; die ganze Gruppe denkt ziemlich genau so wie ich.

Gestern war Miss Szold hier und noch einige Leute von der Jugendhilfe, darunter ein Frl. Stern, die Leiterin der deutschen Jugendalijah. Miss Szold wollte von unseren Eindrücken vom Lande hören. Wir hatten ihr viel Schönes zu berichten, aber auch, was natürlich garnicht ausbleiben kann, auch einiges zu klagen. So z. B.: dass oft die Arbeitszeit nicht genau eingehalten wird, dass wir mehr als 5 Stunden arbeiten müssen, oder dass einige Leute der Kwuzah von einigen Chawerim von uns verlangen mehr Arbeit zu leisten, als es ihnen in ihrem Alter möglich ist, oder dass wir einen andern Iwrithlehrer haben wollen, da wir bei unserm hier nichts

lernen u.s.w. Miss Szold versprach uns in allem, soweit es ihr möglich ist, Abhilfe zu schaffen. Sonst war sie aber sehr froh, da wir ja im grossen Ganzen zufrieden sind, und dass es uns gut geht. Eine fabelhafte Frau ist es, die Miss Szold. Ihre Augen leuchteten, wie sie mit uns, ihren Kindern, sprach. Solange man, wie wir, unter ihrer Obhut stehn, braucht man sich keine Sorgen zu machen. Sie hilft uns allen, so gut es ihr möglich ist.

Nun muß ich aber Schluß machen, der Brief wiegt sicher über. Eure Briefe, lb. Pips und Mutter, werde ich nächste Woche weiter beantworten. Für heute seid alle geküßt von Eurem
Ernst.

Ich bitte Euch diesen Brief nicht Frau Wertheim zu zeigen, Ilse will ihrer Mutter über diese Dinge noch nicht schreiben.

9.5.36.

Unsere Bibliothek ist jetzt fertig, wir haben an die 800-1000 Bücher. Das genügt doch, nicht wahr?

Nochmals Küsse
Ernst