Ernst Loewy an seine Eltern, 11. Mai 1936
Kirjat Anavim, am 11.
Meine Lieben!
Ich erhielt heute Euren Brief vom 4. 5. (Nr. 11) und einen Brief von Lore. Ich habe mich wieder sehr damit gefreut. Für Euer Päckchen habe ich keinen Zoll bezahlen müssen, dass ich Lore's nicht erhalten habe schrieb ich schon. Es ist schön, dass Ihr das Negativ von meinem Bild bekommen habt; könnt Ihr nicht der Else nach Kleinschüttüber eines schicken? Ernst Lamm schrieb mir vor ein paar Tagen, hatte von den Filmen aber auch nichts erwähnt, ob er sie nicht bekommen hat? Stachelbeeren brauchst Du mir vorläufig keine zu schicken - es ist jetzt noch nicht die richtige Zeit dazu - vielleicht im Herbst. Das Obst ist hier noch nicht reif - etwa in 4-6 Wochen erst. Willi Böhm hat mich nicht besucht, obwohl er es mir in München versprochen hatte - vielleicht kommt er noch. Dass Fritz R. immer noch keinen Beruf ergreifen will ist fürchterlich. Du fragst, lb. Mutter, wer Rülps abgesetzt hatte. Miss Szold hat uns den neuen Führer gegeben.
Fritz ist ein feiner Mensch. Er will später Physiklehrer werden. Einen „Oberbürgermeister” gibt es hier nicht. Die Kwuzah macht alles gemeinsam. Jeder hat die gleichen Rechte. Im Bureau sitzen ein paar Leute die arbeitsuntüchtig sind und deshalb die schriftlichen Arbeiten machen. Es gibt natürlich in der Kwuzah ein paar Menschen, die besonders grossen Einfluss haben, eine eigentliche Führung aber gibt es nicht. - Über die Empfangsfeier hier in der Kwuzah weiss ich eigentlich fast garnichts mehr. Ich war an dem Abend so müde, dass ich bei all den grossen hebräischen Reden, die gehalten wurden, und die ich doch nicht verstehen konnte, fast eingeschlafen bin. Ich weiss nur noch soviel, dass ein Mädel mit einer fürchterlichen Stimme noch fürchterliches gesungen hat, dass unser Iwrithlehrer mit Händen und Füssen eine Rede gehalten hat und, dass es leckeren Kuchen gegeben hat. Ich kann trotz Antwortscheinen Lore zum Geburtstag nicht besonders schreiben, ich muss den Brief wieder
einlegen; mehr als einen Auslandsbrief wöchentlich darf ich, wenn es nicht etwas ganz wichtiges ist, keinesfalls schreiben, besonders nicht nach Krefeld, wo es ja möglich ist, die Post zusammen zu schicken. Soviel zu Eurem letzten Brief.
Vor ein paar Tagen ging ich mit einem Fernglas bewaffnet hier auf den Berg und sah ganz deutlich in der Ferne Jerusalem, so deutlich, dass ich jedes Haus unterscheiden konnte. Es ist doch ein eigentümliches Gefühl hier auf dem Boden zu stehen, wo früher Israels Zelte standen und in der Ferne die Stadt zu sehen, die Menschen aus der ganzen Welt angezogen hat, die Stadt, die vielleicht die größte Geschichte von allen Städten der Welt hat, die Stadt, um die so viel gekämpft worden ist von so vielen Völkern der Welt, die Stadt, wo der Tempel gestanden hat, und wo heute noch jeder Ort Zeuge ist von jener großen Geschichte, die sich um diese Stadt gewoben hat. Und doch kommt es hier dem Menschen kaum zum Bewusstsein, auf welch historischer, auf welch alter Stätte er hier steht. Hier sieht man nichts vom heiligen Lande, vom Lande der Väter, nichts von den Kämpfen, die z. B. auch hier vor 2000 Jahren waren - nichts sieht man hier von einer alten jahrtausendlangen Geschichte. Aber etwas anderes sieht man hier, etwas neues, einen neuen Anfang einer neuen Geschichte - man sieht das junge jüdische Land im Aufbau, man sieht den jüdischen Arbeiter, man sieht, wie aus einer Steinwüste fruchtbares Land geworden ist. Man sieht hier einen Kampf, nicht den Kampf zwischen Juden und Philistern, sondern einen Kampf des Arbeiters gegen die Steine und gegen die Wüste. Der Kampf ist hier schon zu Ende, aber man sieht ihn deutlich vor Augen, wenn man sich einen mit Steinen besäten Berg ansieht und ihn vergleicht mit der Siedlung. Man sieht also etwas neues und etwas Großes - aber trotzdem kommt es uns, die wir
aus der Gola kommen, immer wieder zum Bewusstsein, daß wir zwar etwas neues beginnen, etwas neues - aber auf dem Platze, wo früher schon einmal dasselbe war. Wir bauen uns nicht ein jüdisches Land auf, sondern das jüdische Land, wo früher unsere Väter gelebt haben. Daran müssen wir denken; wenn wir das neue sehen, dürfen wir das alte nicht vergessen. Und leider tun das hier die meisten Leute. Wir dürfen nie vergessen, daß wir das Land unserer Väter wieder aufbauen wollen - und dazu müssen wir Juden sein. Die Menschen hier sagen, es genüge im Lande zu leben und hebräisch zu sprechen, um ein guter Jude zu sein. Ich glaube, es gehört etwas mehr dazu. Die Religion ist es, die uns in der Gola zusammenhielt, nicht die Sprache und nicht das Land. Wo diese Leute nun im Lande sind, glauben sie, die Religion nicht mehr nötig zu haben. Die Religion gehört zum jüdischen Volke und kann nicht nur bei der Krankheit der Juden, der Zerstreuung, als Medizin dienen. Im Laufe der Geschichte zeigte es sich, dass Religion und Volk zusammengehört und dass Religion nicht nur bei Bedarf gebraucht werden kann. Die Alijah wird nie die Rückkehr nach Zion werden ohne die Rückkehr zur Religion. Ich persönlich verstehe natürlich unter Religion keine irgendwie überspannte Orthodoxie, sondern eben den Glauben an die Thora, d. h. an die 10 Gebote, an Gott und den Messias.
12.5.36
Heute will ich Euch nun Euren Brief Nr. 10 vom 30. 4. und Vaters Brief vom 28. 4. aus Geseke beantworten. Dass Du Tante Mathilde einen Füllfederhalter geschenkt hast ist schön. Grüsst mir die Hubertusstr. noch einmal ganz besonders. Auch für Lore's Geschenk meinerseits besten Dank. Die Mistgabel hat man mir übrigens noch nicht in die Finger gedrückt, auch habe ich den Kühen die Schwänze noch nicht auswaschen müssen. Butter bekommen wir jeden Tag ein Stück; Obst bekommen wir bis jetzt noch keins - es ist noch nicht die richtige Zeit.
beide ein paar schöne Tage. Grüsst natürlich alle herzlichst von mir. Mutter die Eindthovner und Vater Lamms, Onkel Karl u.s.w. Grüsse Ernst besonders von mir und erzähl ihm recht viel. Schreiben kann ich ihm vorläufig noch nicht. Sag ihm bitte, ich hätte seine Karte erhalten und dankte ihm recht dafür. Frag ihn bitte einmal woher er weiss, dass Lore mir ein Paketchen geschickt hat. Er fragte mich nämlich wie mir Lores Chokolade geschmeckt hat. - Der Negus ist in Jerusalem und wohnt im King David Hotel. Er hat vor, bald in ein Kloster in der Nähe von Jerusalem zu gehen.
Während der Weinernte können wir soviel Trauben haben, wie wir wollen. Wäsche können wir so oft wechseln, wie wir wollen, natürlich dürfen wir nicht zu oft wechseln, aber wir können gut auskommen. Genaue Bestimmungen, wie viel Wäsche jeder brauchen darf, gibt es nicht. Mein Name ist hier Eli; die Leute aus der Kwuzah kennen unsere eigentlichen Namen garnicht. Der Karuso heisst auch hier so - der Name ist international.
Dass das Geschäft so miserabel ist, ist ja scheusslich. Mutter schrieb mir im letzten Brief, dass das Wetter anfängt, besser zu werden - hoffentlich wird das Geschäft dann auch endlich besser. Wenn Ihr es irgendwie ermöglichen könnt, legt Euch Geld weg, damit Ihr mich in 2 Jahren mal besuchen könnt. Es ist schade, dass ich nicht mehr mit nach Bayern fahren kann. Lieber Pips, grüsse alle recht, recht herzlich von mir. Mutter soll sich auch einmal in Eindthoven ein paar schöne Tage machen. Ist Tante Bora noch bei Euch? Dass wir, d. h. unsere Gruppe, den Schabbat etwas halten, schrieb ich schon. Wir machen Kiddusch und Hawdalah, schreiben nicht und lesen ein Buch des Wochenabschnittes vor. Übrigens bilde ich mich in Chemie weiter. Fritz (unser Führer) besorgt mir Chemiebücher von der Universitätsbibliothek in Jerusalem. Ich habe gerade ein Buch aus und dieser Tage will mir Fritz ein neues mitbringen. Ausserdem lese ich sonst noch recht viel. Wir haben sehr viele gute Bücher hier; alles mögliche, jüdische Sachen, Kunst, Karl May, Geschichte, Romane und vieles andere.
Augenblicklich lese ich von Hans Dominik „Das stählerne Geheimnis“.
Für heute nun Schluss.
14.5.36.
Ich sah heute im Kalender, dass Pfingsten schon 31.5. und 1.6. ist. Ich hätte nicht gedacht, dass es schon so bald ist. Dies wird nun wohl mein letzter Brief sein, der Euch noch in Krefeld erreicht. Hoffentlich bekommt Ihr ihn überhaupt noch. Ich werde meine nächsten Briefe trotzdem nach Krefeld schicken. Grossvater kann ihn ja lesen und dann einem von Euch nachschicken und dem andern das wichtigste rausschreiben. Hoffentlich verbringt Ihr