Ernst Loewy an seine Eltern, 2 Juni 1936
Kirjat Anavim, am 2. Juni
Meine Lieben!
Wie ich Euch gestern schon in Ilses Brief schrieb, habe ich Euren Brief erhalten, und mich riesig damit gefreut, von Euch wieder so viel zu hören.
Im Nebenzimmer spielt ein Junge Klavier, Beethoven, er spielt ganz wunderbar. Bei dieser schönen Musik einen Brief zu schreiben, ist noch einmal so schön.
Vorhin war ich wieder einmal auf dem Berg - ich hatte heute morgen oben gearbeitet - und sah das Meer.
Ich denke an die Reise zurück. Ich kann es immer noch nicht recht fassen, dass ich hier in Erez bin. Das Ganze kommt mir vor wie ein Traum. Es ging so schnell. Und jetzt ist es schon wieder lange vorüber. Ich denke immer noch, wie Ihr sagtet: unser Söhnchen wird bald eine große Reise machen und bekommt viel von der Welt zu sehen. Die Reise liegt schon hinter mir, und ich habe unterdes schon wieder so viel erlebt, dass sie für mich schon ein Stück Vergangenheit ist.
Wie schön ist es aber, die Reise noch einmal in Gedanken zu machen, und auch Ihr sollt noch einmal in Gedanken daran teilnehmen.
Das Schöne fing an hinter Bonn - der Rhein, Deutschlands schönster Strom. Das Wetter war prachtvoll - ich sah den Rhein so schön, wie man ihn nur sehen kann. Bei Ludwigshafen nahm ich von ihm Abschied, nahm Abschied von meiner Heimat, dem Lande am Rhein.
München. Dort sah ich das Schönste, was ich jemals sah, was von Menschenhänden geschaffen wurde - das Deutsche Museum. Es machte auf mich einen Eindruck, wie fast nie etwas zuvor. Hier sah ich, was Erfindergeist ist - was es heißt, in hundert Jahren von der Lokomotive George Stephensons zur modernen D-Zuglokomotive zu kommen. Der Besuch des Deutschen Museums war ein schöner Abschluß meines Lebens in Deutschland.
Nachdem ich ein Riesenwerk des Menschengeistes und der Menschenkraft sah, sah ich ein Riesenwerk der Natur - die Alpen. Es war das erste Mal, dass ich „Berge“ sah. Ihr könnt Euch denken, welch ein Erlebnis es für mich
war, über die schneebedeckten Berge der Hohen Tauern zu fahren. Kilometerlang fuhren wir durch riesige Tunnels. Dann sahen wir wieder die Sonne über den weißen Gipfeln der Alpen. - Wir fuhren durch das Tal der Drau. Tief eingeschnitten hat dieser Fluß das felsige Gebirge, so dass das Tal aussieht, wie ich mir einen amerikanischen Cañon vorstelle. Stunden fuhren wir so, bis sich das Gebirge senkte und es dunkel wurde. -
In der Ferne sehen wir Lichter - Triest. - Wir fahren am Meer entlang - beleuchtet von einem Leuchtturm. Der Zug hält.
Nachdem wir im Beth Olim übernachtet hatten, gingen wir am nächsten Morgen durch Triest zum Hafen. Nach einem Morgen, der mit Pass- und Zollangelegenheiten ausgefüllt war, nahmen wir Abschied von Europa. Beim Singen der Hatikwah fuhren wir ab.
Das Mittelmeer. Es folgte die wundervolle Seereise. Split. Über meine dortigen Erlebnisse schrieb ich Euch schon ausführlich. Dann sehen wir die felsige Gebirgsküste Griechenlands. Und dann endlich das offene Meer. Unter uns das blaue, wundervolle Meer, über uns der prachtvoll blaue Himmel. Es wird Nacht und es wird wieder Tag. Um 5 Uhr werden wir geweckt. Haifa - in der Ferne der Karmel. Erez Israel, das gelobte Land. - Wie schön ist es, einmal so in Erinnerungen schwelgen zu können, wenn es auch Erinnerungen an Dinge sind, die erst kurz vorher waren. Wie schön ist es, das Schöne in Gedanken noch einmal zu erleben.
Kirjat Anavim, am 3.6.36.
Nachdem ich gerade etwas auf meiner [..] gespielt habe, möchte ich Euch nun den Brief weiterschreiben. Zunächst möchte ich Euren Brief beantworten. Dass Du, lb. Mutter, mit Pips auf Tour gefahren bist ist schön - hoffentlich habt Ihr Euch beide ein paar schöne Tage gemacht. Wie ist es mit der Reise nach Bayern. Ich nehme an, dass Du nicht gefahren bist, lb. Pips - Ihr schreibt garnichts mehr davon. Hoffentlich bleibt
bei Euch das Wetter weiter gut und somit auch das Geschäft. Hier ist natürlich schönster Sonnenschein. In ein paar Wochen ist das Obst reif - Mitte Juli die Weintrauben. - Ich bin in der Hauptsache wegen Walter Stern umgezogen. Aber auch die andern aus meinem Zimmer sind sehr nette Jungens. Dann habe ich mich mit noch einem Jungen sehr angefreundet, der schon ein halbes Jahr im Land ist. Ich glaube, ich schrieb Euch noch garnicht davon - er ist erst hier in die Gruppe eingetreten, weil wir noch ein Bett frei hatten - also ein Platz unbesetzt war. Er lebte einige Monate bei seinem Bruder in Tel-Aviv und war schon kurze Zeit bei der Jugendalijah in Japur. Er ist aus Berlin und heisst Herbert Ballhorn.
Dass Ihr Palästina-Kunde lernt freut mich - das Heft habt Ihr unterdes sicher schon bekommen und gelesen. Da steht so das allerwichtigste drin.
Lernen tue ich hier sehr viel. Ich mache überall die Augen auf, damit ich einmal etwas kann, wenn die zwei Jahre um sind. Augenblicklich arbeite ich nicht mehr im Gemüsegarten - es ist jetzt gewechselt worden. Ich habe noch keine feste Arbeit. Ich arbeite jetzt einmal da und einmal da - es müssen immer ein paar Leute sein, die nicht festeingeteilt sind, da man in den verschiedenen Zweigen dauernd einmal eine Aushilfe gebraucht. Es kommt da jeder mal dran. Es ist so eine Art Reserve, die immer dann einspringen muss, wenn irgendwo mal ein Mann fehlt. Es ist natürlich nicht sehr schön, weil man in der Zeit nichts gründlich lernt - andererseits ist es aber sehr abwechslungsreich, da man dadurch immer andere Arbeit hat. Na es ist ja nicht lange so, sehr wahrscheinlich gehe ich später wieder in den Gemüsegarten. Da gibt es noch allerlei für mich zu lernen. Heute habe ich wieder auf dem Bau gearbeitet - beim Betonguss.
Lb. Pips, Du entschuldigst so in etwa die Einstellung der Kwuzah in geistigen Dingen. An und für sich hast Du recht - aber ich glaube, es darf doch nicht so
sein. Das Interesse an geistigen Dingen ist bestimmt in anderen Kwuzoth z. Teil besser. Aber was die Politik anbetrifft, so ist es in allen Kwuzoth ziemlich gleich, zum großen Teil noch viel schlimmer. Das gehört eben zum Programm der politischen Vereinigungen, der die Kwuzoth angeschlossen sind. Und dann die allgemeinen Lebensformen, das Leben in einer vollkommenen Gemeinschaft (in einer Gemeinschaft, die selbst über der Familie steht), das ist doch gerade die Grundidee der Kwuzah. Eine Kwuzah ohne das ist schliesslich keine Kwuzah mehr, sondern ein gewöhnliches Dorf. Das, was die Kwuzah von einem gewöhnlichen Dorf unterscheidet, ist doch in der Hauptsache das gemeinsame, das kommunistische Leben. Und diese Lebensform gefällt mir persönlich nicht. Nun muß ich schließen - wir haben jetzt Geschichte.
4.6.36.
Heute erhielt ich Euren Brief vom 26.4. und nach langer Zeit wieder einen Brief von Rolf Schwarz - er ist jetzt in Schweden auf Hachscharah. Leider kann ich ihm wieder nicht selbst schreiben - ich werde Euch demnächst einmal einen Brief einlegen - schickt ihn dann doch bitte an seine Adresse, die Euch dann noch schreiben werde. - Für die vielen Grüsse von der Reise, von Heinz Jakobus u.s.w. besten Dank. Erwidere sie bitte, so weit wie möglich, alle. - Ich habe auch ein paar Tage [..] = Durchfall gehabt - Fieber hatte ich nicht. Das hatten wir so ziemlich alle. Das bekommt jeder einmal, der nach Erez kommt. Ilse ist schon längst wieder in Ordnung.
Vorläufig arbeite ich jetzt für einige Tage beim Bau bis das Haus fertig ist - es ist da sehr interessant - wir haben heute einen Fussboden gemacht. Augenblicklich arbeitet dort fast die Hälfte unserer Gruppe, damit das Haus bald fertig ist.
Das Essen ist hier immer noch gut - wir bekommen häufig eine Obstsuppe (aus Dörrobst) die fabelhaft schmeckt. Auch sind schon einige Äpfel reif, allerdings noch winzig klein. Auch bekommen wir häufig Kartoffeln (die hier sehr teuer sind), und zwar immer als Kartoffelbrei. Butter bekommen wir zweimal am Tag, morgens und abends. - Rülps ist immer noch hier - er bleibt vielleicht sogar noch für einige Wochen da.
5.6.36.
Ich komme gerade aus dem Waschraum, wo ich wunderschön gebraust habe. Das tut immer sehr gut, wenn man den ganzen Morgen gearbeitet hat. Ich wasche mich überhaupt jeden Tag hier kalt von oben bis unten.
Von nächster Woche an wollen Ilse und ich unsere Briefe nun endgültig gemeinsam abschicken. Bis jetzt ging es noch nicht gut.
(wenden.)
Schickt mir bitte hin und wieder mal Zeitungen. Sehr viele Jungens von hier bekommen solche - besonders eine Krefelder Tageszeitung, damit ich mal sehe, was bei Euch vorgeht. Von den Unruhen in Palästina las ich vor kurzem recht ausführlich in der „Braunen Post“!!! Die „Rundschau“ bekommen wir hier regelmäßig.
Sonst weiß ich Euch für heute nichts mehr zu schreiben. Mit vielen tausend Küssen bin ich Euer Ernst