Ernst Loewy an seine Eltern, 20. Juli 1936

Übrigens, was in der Zeitung gestanden hat, stimmt, ist nur reichlich übertrieben.

I

Kirjal Anavim, am 20.7.36.

Zuerst möchte ich Euch die Fragen beantworten, die Pips im letzten Brief gestellt hat, betreffs Organisation in der Kwuzah. Das wichtigste Prinzip in der Kwuzah ist, wie Ihr ja wisst, dass jeder Chawer und jede Chawerah die gleichen Rechte (natürlich auch die gleichen Pflichten) hat. Nur nach aussen hin, der Regierung gegenüber, muss nach dem Gesetze natürlich, wie in jedem gewöhnlichen Dorf, ein Muchtar, ein Ortsvorsteher, der aber, nach dem Prinzip der Kwuzah, doch nicht mehr Rechte hat als die ändern Chawerim. Es ist also nur eine Formalität gegenüber der Regierung. Das wäre also die Leitung der Kwuzah nach aussen hin. Nach innen ist es aber ganz anders. Über alle Dinge bestimmt die gesamte Kwuzah, die aber natürlich zur Organisation einzelne Leute wählt, die hin und wieder gewechselt werden: einen Vorstand (aus sechs Leuten bestehend), den Kassenverwalter, den Arbeitsverteiler und auch einen Waad ha chinuch - das sind die Leute, die sich um unsere Erziehung zu kümmern haben (ich glaube, es sind 4 Leute). Natürlich haben alle diese Leute auch keine grösseren Rechte als die ändern Chawerim; sie sind eben nur die ausführenden Organe. Über Vorstand und Kassenverwalter ist weiter nichts zu schreiben. Dem Waad ha chinuch gehören an: Lea (die unser Haus beaufsichtigt), Schiker (unser Iwrithlehrer), Ben Chaim (der ausser, dass er mal mit uns singt, weiter nichts mit uns macht) und Arjeh Berliner (ein deutscher Chawer, der sich als Vertreter der Kwuzah besser mit uns verständigen kann als die andern Chawerim). Nun etwas über den Arbeitsverteiler. Dieser ist eigentlich so die führende Persönlichkeit der ganzen Kwuzah. Er ist der beste Arbeiter und ist dadurch zu dem Mann geworden, der in der Kwuzah den meisten Einfluss besitzt und der von den andern auch als

inneren Führer anerkannt wird. Nun etwas über die Arbeitsverteilung selbst. Im Bureau und auf der Tnuvah arbeiten alles Leute, die durch irgendwelche Krankheiten nicht mehr körperlich arbeiten können. Diese Leute werden natürlich nicht ausgewechselt. Die meisten der andern Chawerim wechseln hin und wieder ihre Arbeitsplätze. Nur, diejenigen, die regelrechte Fachleute sind, oder einen besonders verantwortungsvollen Postn haben (z. B.: die Leitung des Kuhstalls) bleiben auf ihren Plätzen (meistens sind es welche von den älteren Leuten). Die Frauen müssen alle zwischendurch mal ein halbes Jahr in der Küche arbeiten. Auch gibt es hier Leute, die gar keinen festen Arbeitsplatz haben, die Reserve (meistens jüngere Leute) selbstverständlich ist es auch so, dass die Alten mehr Vorteile haben als die Jungen, auch haben sie auf der Versammlung (der Assifah [..]) mehr Einfluss. Aber auch junge Chawerim haben zum Teil schon viel Einfluss. Die allgemeinen Rechte, was Essen, Kleidung, Porto u.s.w. anbetrifft, sind natürlich bei allen gleich - selbstverständlich unabhängig von der Arbeitsleistung. Die Art der Wohnung (ob Steinhaus oder Holzbaracke) ist abhängig von der Kinderzahl und der Zeit, die man in der Kwuzah ist (und auch vom persönlichen Glück).

Vorgestern abend hat man mal wieder geschossen, doch wieder ohne, dass etwas passiert ist. - Ich schicke Euch diesmal wieder ein Bild mit, was damals Frl. Stern (von der Jugendalijah) aufgenommen hat und für jeden von uns geschickt hat. Von links nach rechts (oben) Fredi Baumwollspinner, Heinz Brotzen, Hannelore Löwenstein (Essen), Gerda Diamant (Hannover), Don Hoffner (Leipzig), darunter Jetti Rubin (Leipzig), Fritz Schloss (Eisenach), Werner Karper, Benny Salinger (beide Hamburg), Edith Stern (Frankfurt), Sonja Nohmann (Berlin), Ossa Wernick (Gera), Gert Schlesinger (Berlin), Erbse, Lore Falk (Berlin) - Unten: Küken, ich, Heiner Guggenheimer

II

(Worms), Margot Plysak (Königsberg), Rolf Stern (Berlin), Herbert Walter (Siemötzel, Pom) - Leider sind auf dem Bild nicht alle Leute drauf, aber doch eine ganze Menge. Der mit Steinen bedeckte Berg im Hintergrund ist bereits arabisches Gebiet.

29.7.36.

Gestern erhielt ich Euren Brief vom 12.7. u. 13.7., 10 M, eine Paketkarte (für die blaue Hose), Zeitungen und die Fusslappen. Vielen Dank für alles. Schickt mir bitte noch ein paar Fusslappen, aber, wenn es geht, dunklere. Ich glaube auch, dass diese Lappen sehr warm sind - kann man keine leinernen gebrauchen? Heute morgen habe ich mich ins Bett gelegt - ich habe Angina; man hat mir den Rachen ausgepinselt, und alle halbe Stunde muss ich gurgeln. Fieber habe ich keins, nur 37,5° C. Ich hoffe, dass ich übermorgen wieder aufstehen kann, schlimm ist's jedenfalls nicht. - Ich werde doch weiter mit Ilse zusammenschreiben (unter Eurer Adresse); wir sparen so nämlich eine ganze Menge Porto, und ich kann jetzt schonmal einen Brief mehr schreiben! - Schade, dass Vater nicht nach Bayern fährt, ich habe die schöne Reise schon in Gedanken mitgemacht, aber wer weiss, ob es auch nicht so besser ist. - Schokolade braucht Ihr mir keine zu schicken, wir müssen sie doch abgeben und ich bekomme doch fast nichts davon mit.

Gerade fällt mir ein, daß ich mal wieder Deutsch schreiben soll, mir fällt es tatsächlich schon etwas schwer.

Unser Gottesdienst, den wir am Schabbath machen, gefällt mir sehr gut. Ein Junge von uns kann richtig „oren”, und mit der „Sidrah” wechseln wir uns ab - jeder sagt sie einmal. Was die Alten zu unserem Gottesdienst sagen, weiß ich nicht - ich glaube kaum, daß sie überhaupt davon wissen. Wir fangen immer

morgens schon um ½ 7 an, damit wir vor dem Frühstück um 8 fertig sind. (Übrigens sind die, die wir hier die Alten nennen im Durchschnitt 35 Jahre - über 40 sind nur 2). Die ganz Alten, das sind die angeforderten Eltern, die sind natürlich älter, sind aber nicht Mitglieder der Kwuzah. Es sind drei alte Männer und diese machen für sich auch einen Gottesdienst, sie leben überhaupt vollständig orthodox und essen nicht mit uns zusammen. Einmal haben wir uns bei ihnen einen Gottesdienst angesehen, und kann ich nicht sagen, daß mir dieser polnische Gottesdienst, wo alle drei aufeinander losbrüllen, gut gefallen hat.

Augenblicklich sind wir hier mitten in der Weinernte. Wir bekommen jetzt jeden 2. Abend eine riesige Portion Trauben. Die Weinernte ist übrigens immer mittags, so daß diejenigen von uns, die dort arbeiten, anstatt morgens mittags arbeiten. Jeder von uns wird einmal auf der Weinernte arbeiten; und zwar geht das nach Iwrithkursen geordnet, daß jeder Iwrithkurs dort 10 Tage arbeitet. Die betreffenden haben ihren Unterricht dann morgens. - Entschuldigt bitte die heute besonders schlechte Schrift; aber da ich im Bett liege geht's nicht besser.

 

23.7.36.

Eure Karte, eine zweite Paketkarte, Schnellhefter, Luftpostpapier und einen Brief von der Elisabethstr. habe ich gestern erhalten, und danke Euch für alles recht herzlich. Mir geht es schon wieder besser, muss aber noch zwei oder drei Tage liegen. Film schickt mir bitte keinen; ich habe selbst noch einen, und soviel dürfen wir nicht knipsen. Lore werde ich nächste Woche wieder schreiben. Ilse hat diese Woche ihren Brief schon weggeschickt; werden später aber wieder zusammenschreiben. Für heute recht viele Grüsse und Küsse von Eurem Ernst.