Ernst Loewy an seine Eltern, 27. September 1936
Sonntag, Kirjat Anavim, am 27.9.36
Meine Lieben!
Heute erhielt ich Euren lb. Brief vom 18.9., wofür ich Euch recht danke. - Jom Kippur ist nun auch schon vorbei. Gefastet haben wir mit Ausnahme von einem Jungen alle. Ich habe sehr gut gefastet. Hoffentlich Ihr ebenso. Zusammen gebetet, wie am Schabbath, haben wir natürlich nicht, da die Kenntnisse des Jungen, der am Schabbath vorbetet, nur gerade für die Schabbathgebete genügen. Am Kol Nidre-Abend las uns Fritz eine Geschichte vor, die von Jom Kippur handelt und am andern Tage lasen wir die Haftaroth von der Morgen- und Mittagvorlesung und sprachen zusammen darüber. - Angebissenhaben wir mit Wein, Kuchen und Erdbeeren. - Ich habe den ganzen Tag viel gelesen und vor allen Dingen die Kunstgeschichte ausgelesen, aus der ich sehr viel gelernt habe. Ich weiss noch, lieber Vater, wie Du mir früher immer Bilder gezeigt hast und gesagt hast, ich solle mich auch für so etwas interessieren. Damals hätte ich mich so schön mit Dir über all das unterhalten können, aber da hatte ich kein Interesse daran. Jetzt wäre ich froh und glücklich, mit Dir über Michelangelo, Rembrandt, Dürer, die Gotik, Renaissance u.s.w. sprechen zu können - es ist nun aber zu spät! Ich lese jetzt ein Buch von Mereschkowsky „Leonardo da Vinci” ein Roman, der sehr gut sein soll. Ich habe ihn gestern angefangen. - Jom Kippur in der Kwuzah hat mir alles weniger als gut gefallen. Gefastet haben die wenigsten - aber auch das wäre nicht das Schlimmste, wenn man sonst den Tag würdig begangen hätte. Aber an Stelle einer feierlichen Stimmung, die eigentlich an diesem Tage doch selbstverständlich sein sollte, hörte man den ganzen Tag von den jüngeren Leuten ein lautes Johlen, wie ich es hier noch nie gehört habe - wie um zu provozieren und zu zeigen, dass man mit dem traditionellen Judentum nun endlich gebrochen habe. -
Jüdisches Land! Als die „Zabres“, eingeborene Kinder, hörten
dass wir fasten, fingen sie an zu lachen. Allerdings muss gesagt werden, daß die älteren Chawerim, die russischen, ich glaube wohl ohne Ausnahme, eine viel ernstere Einstellung zu diesen Dingen haben. Wenn auch sie auf die Religion wenig geben, und das Ziel des Judentums nicht in der Thora, sondern im Jüdischen Lande, im Nationalismus sehen, so achten sie doch die Gebote der Väter, die sie selbst nicht mehr, weder für sich, noch für ihre Kinder, anerkennen und verstehen. Sie kämpfen nicht gegen die Religion, sondern sehen sie eben nur als veraltet an, und für sie nicht mehr gültig und undurchführbar, während die jungen Polen zum großen Teil die Religion verlachen und verspotten. - Den Brief werde ich Euch morgen beantworten.
Montag, den 28.9.36.
Heute will ich Euch Euren Brief beantworten. Doch vorher noch - ich erhielt vorhin die Schlafanzughose, für die ich Euch sehr danke und die sehr schön ist. Ausserdem erhielt ich einen Brief von Fritz, dem ich gerade vor ein paar Tagen die Rückantwortkarte von der Hubertusstr. zu seinem baldigen Geburtstag geschickt habe. Wenn Ihr ihn einmal seht, könnt Ihr den Brief bestätigen. Die letzten Tage habe ich wieder bei der Hachscharah im Gemüsegarten gearbeitet, und zwar gedüngt. Ob ich wieder für fest in den Gemüsegarten komme, weiss ich noch nicht. - Vor ein paar Tagen ist die Unterrichtszeit geändert worden, da Schiker nun alle Iwrithstunden übernommen hat. Dadurch haben nun die verschiedenen Kurse zu verschiedenen Zeiten Unterricht - wir haben jetzt von 1-½ 3 Iwrith und von ½ 3-4 allgemeinen Unterricht bei Fritz. Von da an habe ich nun bis zum Abendessen Freizeit und meistens darnach auch noch, wenn wir nicht gerade [..] oder so etwas haben. Nun endlich zu eurem Brief. Für all die vielen Grüsse, die Ihr mir bestellt, herzl. Dank. Grüsst alle schön wieder. - Was ist eigentlich mit Lore los, sie hat mir schon seit Wochen nicht mehr geschrieben. - Wenn der Herr, der damals Herbert und mich photographiert hat, noch einmal wiederkommt, will ich ihn bitten, mir das Negativ zu überlassen. - Ich wollte Euch eigentlich noch weiter schreiben, doch bittet mich gerade ein Junge ihm bei einer Arbeit zu helfen. Dann also bis morgen.