Ernst Loewy an seine Eltern, 29. September 1936

Meine Lieben.

In Eurem Briefe vom 18.9. schreibt Ihr von einem Gerücht, was in Krefeld über Ilse rumging. Dass von dem, was Ihr schreibt, natürlich nicht das geringste wahr ist, ist selbstverständlich. Ich finde nur fürchterlich, dass ein solches Gerücht in der Gemeinde Krefeld immer so schnell Fuss fassen kann. Es ist ja auch nicht das erste Mal, dass in Krefeld über irgend jemand jeder mögliche Unsinn erzählt wird. Dass Manfred irgend etwas Unwahres nach Hause geschrieben hat, stimmt sicherlich nicht. Manfred ist ein grundanständiger Kerl und würde eine solche Unwahrheit niemals nach Hause schreiben. Übrigens kenne ich die Kaufmann gut und glaube ich bestimmt, dass sie so aus sich heraus das Gerücht verbreitet hat. Auch so etwas wäre bei ihr gerade nicht das erste Mal. - Ich habe die Sache mit Fritz besprochen und will er noch ein paar Zeilen anschreiben. Frau Wertheim braucht Ihr nichts zu sagen. Hoffentlich hört sie nichts davon, und geht das Gequatsche bald zu Ende.

Sehr geehrter Herr und sehr geehrte Frau Löwy!

Ernst erzählte mir heute von dem Gerücht, das über Ilse in Krefeld umgeht. Ich glaube, es erübrigt sich gänzlich, überhaupt Stellung dazu zu nehmen. Unsere Mädels, und besonders Ilse, sind über solche Vorwürfe völlig erhaben.

Ernst selbst hat sich hier sehr herausgemacht. Sowohl in der Arbeit als auch im Unterricht steht er seinen Mann. Ich glaube auch, dass er sich in die Gruppe gut eingelebt hat und sehr mit ihr zufrieden ist.

Mit bestem Gruss
Ihr Fritz [..]

Übrigens habe ich Ilse auch nicht davon erzählt.

Muss Frau Wertheim übrigens alle meine Briefe lesen? Ich schreibe doch auch schliesslich schonmal Dinge, die sie nichts angehen.

Dienstag, den 29.9.36.

Die Beantwortung Eures Briefes, bei der ich gestern unterbrochen wurde, will ich heute fortsetzen. Und zwar will ich Euch zuerst nach Eurem Wunsche etwas über das Verhältnis von Jungens und Mädels erzählen. Wenn die Gruppe einmal auf Ansiedlung (hitja.sch.wuth) gehen sollte, ist das Verhältnis rein zahlenmässig natürlich sehr schlecht, da wir 18 Jungens und 10 Mädels sind. Das wird später für die Gruppe einmal ein wichtiges Problem bilden; aber vorläufig braucht uns das noch nicht zu beschäftigen. Sonst ist das Verhältnis zwischen Jungens und Mädels sicherlich sehr gut. Das, was man „poussieren“ nennt, gibt es bei uns überhaupt nicht. Wir bilden zusammen eine geschlossene Gruppe und einen Unterschied zwischen Jungens und Mädels gibt es wohl nirgendwo, außer natürlich in der Arbeit, aber auch da nur in kleinem Masse. Wie Ihr wisst, müssen auch Jungens Hausarbeit machen und in der Küche arbeiten, und andererseits machen die Mädels z. B. auch bei leichten Arbeiten beim Bau mit. Also auch da nur ganz geringe Unterschiede. In geistigen Dingen und gesellschaftlichen gibt es gar keine. Dass hier eine Gruppe Jungens und dort eine Gruppe Mädels sich unterhalten, gibt es nicht - wir machen alles gemeinsam. Es ist natürlich selbstverständlich, dass sich dabei ein paar Freundschaften bilden. Wir haben hier drei Paare, bei denen nicht einmal ausgeschlossen ist, dass, wenn sie auf hitjaschwuth gehen, sich einmal heiraten werden - aber so weit ist es ja noch lange nicht. Jedenfalls halte ich das für eine natürliche Sache, gegen die nicht das geringste einzuwenden ist. Zu Leuten aus der Kwuzah hat kein Mädel irgendwelche Beziehungen. Anschliessend hieran will ich Euch nun etwas allgemein über diese Dinge in der Kwuzah schreiben. Leider ist es wahr, dass tatsächlich die Moral nicht allzu gut ist in sehr vielen Kwuzoth. Hier in Kirjat Anavim ist sie allerdings noch eine verhältnismässig gute. Es ist bekannt, dass in den Kwuzoth unverheiratete Jungens und Mädels zusammen auf einem Zimmer schlafen. So ist es auch hier - doch kann man das natürlich nicht als unmoralisch bezeichnen, wenn, wie es hier doch meistens ist, Junge und Mädel

sich entsprechend benehmen und nicht irgendwelche andern Verhältnisse zu andern Chawerim, bezw. Chaweroth, haben. Wenn nun ein Kind kommt, sieht die Kwuzah das Paar eben als verheiratet an, und die Sache ist erledigt. So ist es auch hier in vielen Fällen. Meistens lässt sich das Paar auch nachher gar nicht trauen, und man sieht es doch als verheiratet an, und die Leute leben auch danach. Und zwar kommt das wohl daher, daß es in Erez keine standesamtliche Trauung gibt, sondern nur die kirchliche. Rabbiner, Pfarrer und Mufti (oder wie er heisst) haben die Staatsgewalt. Standesamtliche Trauung gibt es nicht, zum Rabbi gehen viele nicht, was ja nach ihrer religiösen Einstellung nicht mehr verwundern kann. An und für sich ist ja die Trauung auch nur eine Formsache und ihnen hier ist es egal, ob sie den Traubrief haben oder nicht. Sie fühlen sich auch ohne ihn als verheiratet. Also, wie schon gesagt, ist das nicht als unmoralisch zu bezeichnen, das heisst, solange die Leute sich entsprechend verhalten, was, glaube ich, auch meistens geschieht. - So ist es hier und vielen ändern Kwuzoth. Dagegen ist die Sache in den Kwuzoth des „Kibbuz Arzi“ ganz anders. Es gibt drei Arten von Kwuzoth, die sich in ihrer politischen Richtung unterscheiden und sich jeweils zu den drei Kibbuzbewegungen zusammengeschlossen haben: 1. Chewer Hakwuzoth, 2. Kibbuz Arzi, 3. Kibbuz Hameuchad. Der „Kibbuz Arzi” ist auf das extremste Links innerhalb des Zionismus eingestellt (Kommunisten sind es natürlich nicht, denn diese kann es ja innerhalb des Zionismus nicht geben). Und das wollen sie auch in diesen Dingen zeigen. Völlige Gemeinschaft in allen Dingen. Familie darf es nicht mehr geben. Das einzige Band ist die Kwuzah. Auch im „Chewer Hakwuzoth“, dem wir angehören, kann die Familie nicht mehr das sein, was sie früher war, da ja auch hier die Kwuzah über allem steht. Aber während das hier längst nicht so schlimm ist, gehört es im „Kibbuz Arzi“ sogar zum Programm. Mehrere Jungens und Mädels schlafen dort zusammen im Zimmer, auch ohne das zu sein, was man hier verheiratet nennt, wenn es auch ohne das Stück Papier ist. Ich glaube nicht, dass so etwas moralisch zu nennen ist. Aber so etwas gibt es hier nicht, nur in den Kwuzoth, die dem „Kibbuz Arzi“ angeschlossen sind. - Nun Schluß für heute.