Ernst Loewy an seine Eltern, 1. Mai 1937
Samstag, den 1. Mai 1937.
Vielen Dank, lb. Pips, für Deine Karte aus Herford, die ich gestern erhielt. Zu beantworten habe ich ja nichts, auch nichts auf den Brief. Die Fragen betreffs Deiner Reise will ich noch einmal aufschieben zu beantworten - das nächste Mal werde ich bestimmt darauf eingehen. Ich habe jetzt keine Geduld, die Briefe daraufhin alle noch einmal durchzugehen. So eilig ist es ja auch nicht. Neben mir spielt Benni gerade Klavier, etwas von Gries aus „Peer Gynt” von Ibsen, das er bekanntlich vertont hat, und da die Musik so schön ist, habe ich jetzt wenig Ruhe zu schreiben. Ich lese selbst augenblicklich auch noch Ibsen, der mir hervorragend gefällt und aus dem ich für mich selbst viel lerne. Ich las „Peer Gynt“ und eine Menge der Gesellschaftsdramen, bin augenblicklich bei „Rosmersholm“. - Ausser dem Unterricht sind jetzt für jeden Abend Kurse eingerichtet, die freiwillig sind, an denen, wenn man einmal anfängt, aber mitmachen muss, und zwar jeden Abend ein anderer Kurs. Es sind folgende Kurse: bei Fritz (an einem Abend gleich zwei) Philosophie und Physik, bei Pinchas Soziologie, beim Zahnarzt ein Kurs über das Thema „Individuum und Kollektiv“, ein äusserst interessantes Thema, bei einem Chawer der Kwuzah über die Arbeiterbewegung, bei einem andern Chawer ein landwirtschaftlicher Kurs, der anfängt mit Obstbau, und bei Schiker ein Pressereferat. Ich mache bei beiden Kursen von Fritz mit, beim Zahnarzt, bei Pinchas und dem landwirtschaftl. Kurs. Die besten Kurse sind die von Fritz und vom Zahnarzt, die eben Fragen behandeln, die mich persönlich interessieren. Besonders an Philosophie habe ich in der letzten Zeit ein besonders grosses Interesse bekommen, und es kommt vor, dass ich abends im Bett, wenn schon alle andern schlafen, noch bis zwölf Uhr mit Pinchas über Nietzsche, Schopenhauer oder Freud diskutiere. Pinchas ist allerdings in fast allen Dingen anderer Meinung als ich (während ich mit Fritz viel mehr Gemeinsames habe), aber das ist gerade interessant. - Für heute nun Schluss.
Seid herzlichst gegrüsst und geküsst
von Eurem Ernst.
Anbei einige Marken, die Onkel Richard mir geschickt hat.