Ernst Loewy an seine Eltern, 3. September 1937
Kirjat Anavim, den 3. Sept. 37, Freitag.
Meine Lieben!
Besten Dank für Euren lb. Brief, den ich nun endlich Anfang der Woche erhielt. [...]
Zu Eurem Briefe ist nicht vieles zu sagen. Dass Dich, liebe Mutter, meine Anschauungen in manchen Dingen betrüben, tut mir sehr leid. Ich weiss Dir leider auf Deine Zeilen keine Antwort zu geben, und hat es auch wenig Wert, sich schriftlich über diese Dinge auseinanderzusetzen. Vater kennt meine Ansichten, und habe ich eigentlich nichts mehr hinzuzusetzen. Aber, was Du über ungeeignete Bücher schreibst, so stimmt dies sicherlich nicht - es gibt wohl kaum bessere Lektüre als Spinoza, Goethe, Schopenhauer, Nietzsche, Thomas Mann und Sigmund Freud - und diese Menschen sind es doch, denen ich all das verdanke, was man so Weltanschauung nennen kann. Lest einmal im Faust die Stelle, in der Faust sich mit Gretchen über Religion unterhält. Am Ende heißt es
„Nenn es dann, wie Du willst,
Nenn’s Glück, Herz, Liebe, Gott.
Ich habe keinen Namen dafür,
Gefühl ist alles,
Name Schall und Rauch,
Umnebelnd Himmelsglut.“
Auch ich habe keinen Namen dafür - wenn ich einen suchen würde, könnte ich es nur Liebe nennen. Und kommt es nicht doch auf dasselbe hinaus? Aber mit dem Gott des alten Israels, der am Jom Kippur das Buch des Lebens
und des Todes aufgeschlagen hat, und um dessentwillen man Gebräuche und Zeremonien erfüllt, deren Sinn wir ja kaum einmal verstehen - mit dem alten Gott hat das grosse Gefühl nichts zu tun, weder bei Spinoza noch bei Goethe und bei all denen, die von ihnen gelernt haben. Und deshalb gebrauche ich das Wort Gott nicht für etwas, das mit der ursprünglichen Bedeutung dieses Begriffes gar nichts mehr zu tun hat, und bin doch nach den Begriffen vieler Menschen vielleicht noch religiöser als mancher, der vorgibt, an Gott zu „glauben“ und alle Gebräuche erfüllt. „Gefühl ist alles, Name ist Schall und Rauch.“ Und dieses „ozeanische Gefühl“, wie Freud es einmal nennt, hat sogar der Mann, der der grösste Atheist war und sich den „Antichristen“ nannte - Nietzsche. Und dieses grosse Gefühl, welches bei ihm ausgedrückt ist in der Liebe zur Ewigkeit, würde manche Menschen vielleicht veranlasst haben, Nietzsche einen religiösen Menschen zu nennen. Aber letzten Endes hat ja das, was man heute Religiosität nennt, eben dieses Gefühl der Liebe zur Welt und Natur, ja gar nichts mehr mit der alten Religion zu tun - und deshalb nenne ich es auch bewusst nicht mehr so. Und so kommt letzten Endes doch alles auf dasselbe hinaus. Ich nenne diese ganzen Dinge nicht „Religion“, bin danach auch nicht „religiös“ - Ihr nennt sie wohl Religion, nennt vielleicht das, was ich Welt und Natur nenne, „Gott“, und bin ich in Euren Augen am Ende doch religiös und war das Ganze nur eine Wortfechterei. Und liegt unser ganzer Unterschied nur noch darin, dass ich eine klare Scheidung sehe zwischen dem Gotte des alten Israels und meinen Vorstellungen von Welt und Natur, die gar nichts miteinander zu tun haben - daraus ergibt sich eine Ablehnung aller religiösen Formen. Ihr seht den Unterschied nicht so deutlich, haltet noch die Formen, ohne im Herzen an diese noch eine Bindung zu haben. Und das, was die
Hauptsache ist, die Liebe und das Gefühl, ist da - bei Euch und bei mir. Ob wir es so nennen oder so, bleibt sich letzten Endes doch gleich. Habt Ihr mich verstanden? - Ohne dass ich es anfangs wollte, fiel mir also dort noch manches ein, was ich zur etwaigen Klärung noch hinzuzusetzen wünschte.
Soweit zu Eurem Briefe. Von hier wiederum einige interessante Neuigkeiten. Naftali war mit Pinchas bei Hans Beit, und hat jener dem Pinchas mal gründlich die Ohren gewaschen, so dass heute weder wir noch oben als die Schuldigen dastehen, sondern einzig und allein Pinchas. - Aber, was viel wichtiger ist - er fordert von beiden Gruppen, dass wir wieder zusammengehen - er duldet den augenblicklichen Zustand nicht mehr länger und erkennt keinerlei Bedingungen, weder von oben noch von uns, an. Fritz ist nun zweimal diese Woche bei uns gewesen (von sich aus - nicht etwa im Aufträge von B.), um die Sache zu regeln - er steht völlig auf unserer Seite, fordert nun aber von uns, damit man uns von Seiten der Sochnuth nichts mehr vorwerfen kann, noch einen letzten Versuch, zusammenzugehen unter Pinchas’ Führung - genau, wie es früher war. Es soll dies ein Versuch sein für eine bestimmte Zeit - wenn wir danach sehen würden, dass es nicht so geht, dann würde er sich bei Hans B. für eine radikale Lösung einsetzen, d. h. entweder Pinchas fortnehmen oder einen zusätzlichen Führer nehmen - aber es könnte erst davon die Rede sein, wenn dieser letzte Versuch missglückt wäre. Anfangs waren wir nicht damit einverstanden - um aber der Sochnuth wenigstens unsern guten Willen zu zeigen, haben wir den Vorschlag schliesslich angenommen und haben die „Verhandlungen“ schon begonnen. Das wäre alles.
Zu den Feiertagen viele Glückwünsche - leider ein wenig verspätet - und alles Gute.
Viele Grüsse und Küsse
Euer Ernst.