Ernst Loewy an seine Eltern, 1. November 1936
Kirjat Anavim, Sonntag, den 1.11.36.
Meine Lieben!
Als ich heute mittag aus Tel-Aviv heimkehrte, erwartete mich Deine Karte vom 21.10. aus Bielefeld und ausserdem noch eine sehr freudige Nachricht, dass wir nämlich am Donnerstag nach Jerusalem fahren, zur Habimah in Shakespeares „Kaufmann von Venedig”. Nun will ich Euch ein wenig über meine „Mittelmeerreise” schreiben. Das Institut, wo Herbert arbeitet, ist ein biologisches Laboratorium, in dem für zukünftige Biologielehrer Unterricht gegeben wird. Dem angeschlossen ist ein kleiner Garten mit einigen Tieren, die später einmal den Grundstock für einen Zoo bilden sollen. Herbert hat dort so ziemlich die Stelle eines „Hausmeisters”. Er wohnt als einziger dort, hat die Schlüssel, muss alles in Ordnung halten u.s.w. udn kann mit seinen 6 £P leben wie ein Fürst. Wohnung braucht er nicht zu bezahlen, während andere Leute hier mit 4 £P auskommen müssen und dazu noch die Wohnung bezahlen. Da der andere junge Mann sich jetzt ein Zimmer gemietet hat, hat Herbert jetzt immer noch ein Bett frei, und kann ich ihn hoffentlich später wieder einmal besuchen. - Ich wollte Max Levy besuchen, hörte aber an seiner alten Adresse, dass er nicht mehr in Tel-Aviv ist, sondern in Petach-Tikwah. Sodann war ich bei Dr. Ickelheimer, der Tante von Trude Boehm, die ich leider selbst nicht angetroffen habe. Frau Ickelheimer sagte mir, dass es der Trude nicht besonders hier gefiele, und sie nach Deutschland zurückwolle, um ihrem Vater den Haushalt zu führen. Sie warte nur noch auf einen Brief ihres Vaters mit einer bestimmenden Antwort, um dann eventuell schon in den nächsten Tagen zu fahren. - Wir sind fast den ganzen Tag fort gewesen in der Stadt und haben uns zwischendurch einmal in ein Café gesetzt, deren es hier unzählige gibt. Fast jedes dritte Haus hier ist eine „Miswadah”, wo das Hauptgetränk allerdings nicht Kafé sondern Limonade ist, in jeder Farbe, jedem Geschmakc und jeder Preislage. Ausserdem steht hier an fast jeder Ecke noch eine „Gasosbude”. Lange Zeit sind wir am Strand spazieren gegangen und haben auf der einen Seite in der Ferne auf einem Berge Jaffa liegen gesehen - auf der andern Seite den Tel-Aviver Hafen. Schwimmen waren wir nicht, da das Wetter nicht so besonders warm war und es nachts davor geregnet hat. - Am Samstagabend waren wir im Kino - in einem Kriminalfilm, aber einem wirklich guten. Kein Kitschfilm wie meistens, sondern wirklich ein Film mit Sinn und Verstand - mit Gründgens, Kemp und Peter Lorre. - Vorher, nachdem Schabbath aus war, sind wir über Allenby-
und Ben-Jehudastrasse promeniert - ein Verkehr dort, wie auf dem Kurfürstendamm. - Nun ein wenig über Tel-Aviv selbst. Eigentlich eine Stadt, wie jede europäische Grossstadt. Nur drei Dinge unterscheiden sie von jeder andern Stadt und geben ihr ihren eigentümlichen Reiz und zwar ist es erstens, dass es dort nur Juden gibt, zweitens, dass die Stadt so völlig neu ist, und deshalb alle Häuser in dem modernen Stil gebaut sind, der in Deutschland noch so selten ist, dass man beispielsweise das Haus von Lange und Esters in Krefeld angafft, während man eine andere Bauart in Tel-Aviv kaum findet. Und drittens sieht man in Tel-Aviv tatsächlich die Alijah - auch dort gibt es überall Bauplätze, selbst mitten in der Stadt wird noch gebaut. Und was gebaut wird, ist hier alles so modern wie man es in Deutschland nur ganz selten findet und deshalb auf jeden Neueinwanderer solch einen besonderen Eindruck macht. Und sonst ist es eine Stadt wie jede andere - mit einem Kurfürstendamm, über den man 3 mal gehen kann und danach sagen kann - ich kenne Tel-Aviv. Jede zweite Frau ist geschminkt, jeder dritte Mensch spricht Deutsch und jedes 4. Wort handelt von der Mode oder dem Geschäft. Das ist Tel-Aviv; um dies kennen zu lernen, braucht man nur die Allenbystrasse zu kennen, eventuell noch den Strand. Alles, was anders aussieht, ist nicht Tel-Aviv, wenigstens nicht das, was wir darunter verstehen. Tel-Aviv ist Geschäft, Verkehr, Mode und Strand - der Geist hat sich vor alledem nach Jerusalem geflüchtet, nur ein kleiner Rest ist noch davon in Tel-Aviv geblieben. Das soll für heute genügen.
Dienstag, den 3.11.
Ich will Euch heute etwas weiter schreiben. Als ich in Tel-Aviv war, war hier eine grosse Abschiedsfeier für die Hilfspolizisten - von den 20, die hier waren, sind nur noch 6 geblieben. Man sieht also auch hieran, dass die Unruhen jetzt tatsächlich zu Ende sind. Auch in Tel-Aviv sah man schon wieder einzelne Araber. Der Streik ist völlig abgebrochen. Arabische Autos fahren wieder, in den Häfen und Orangenplantagen wird wieder gearbeitet - und die Araber klauen des Nachts Betten aus dem schon längst wieder verlassenen Wachthäuschen auf dem Berg. Das ist ein gutes Zeichen. Geklaut haben sie immer schon; nur in den Unruhen nicht; da haben sie es doch auf andere Dinge abgesehen. Klauen tun sie nur in „Friedenszeiten”. -
Ich habe nun tatsächlich Glück. Kaum komme ich aus Tel-Aviv zurück, so fahren wir schon zusammen nach Jerusalem ins Theater.
Wir haben gestern Abend zusammen den „Kaufmann von Venedig” gesehen und übermorgen werden wir zusammen fahren. Übrigens weiss ich noch nicht, ob die Habimah es spielt oder die zweite hebräische Bühne der „Ohel”. - Ich lese augenblicklich die Schattenbilder von Herbert Eulenberg, die ich selbst mitgebracht habe, und die mir sehr gut gefallen. Ausserdem lerne ich einmal wieder etwas Geschichte aus dem Buch „die Geschichte der Welt” von Wells. Ausserdem haben wir ja auch im Unterricht noch jüdische Geschichte, wo wir gerade bei Jesus sind. - Über meine Arbeit ist nicht sehr viel zu schreiben. Immer noch Hachscharah auf einem Feld für Grünfütter. Auf einem andern Felde ist schon Klee gesaet worden. Auch auf dem Feld, auf dem wir jetzt arbeiten, ist schon mit der Saat angefangen worden. Es sollen in diesem Winter ungefähr 10 Dunam Grünfutter gebaut werden für das Vieh - sowohl Kühe als auch Hühner. Anfang der Woche sind zwei neue Maultiere gekauft worden, die allerdings ein wenig besser sind, als unsere alten Viecher. - Gestern erhielt ich von Ernst Lamm aus München einen Karte. Aus Tel-Aviv habe ich an die Hubertusstr. geschrieben und an Lore eine Ansichtskarte.
Freitag, den 5.11.36.
Besten Dank für Eure Karte vom 28.10., den Brief aus Briolon dto. 28.10., die ich heute erhielt und Euern Brief vom 25.10., den ich gestern in der Tnuvah in Jerusalem schon bekam. Besonders für die schönen Bilder vielen Dank. Ich war nun gestern das erste mal in der heiligen Stadt, der Stadt der Klagemauer, des heiligen Grabes und der Omarmoschee. Ich muss Euch nun leider enttäuschen, denn von all diesen Dingen habe ich garnichts gesehen. Für eine grössere Gruppe ist es noch nicht ganz ungefährlich in die Altstadt zu gehen. Aber auch von den schönsten modernen Vierteln sah ich wenig und kann mir deshalb noch kein richtiges Urteil erlauben. Wir waren in der Universität, der Nationalbücherei und dem Amphitheater, die weit draussen auf dem Skopus liegen und von wo man eine grossartige Aussicht auf die ganze Stadt hat udn andererseits bis weit ins Ostjordanland sehen kann. 1000 m unter uns sieht man das Tote Meer und den Jordan. Zwischen Jordan und Universität die Wüste Juda, in der kein Grashalm zu sehen ist. Die Wüste fängt unmittelbar hinter der Universität, bezw. dem Amphitheater an und geht von einer Höhe von 800 m (Jerusalem) bis über 200 m unter den Meeresspiegel (das Tote Meer). Einen besseren „Aussichtsturm” als den Skopusberg kann es
überhaupt nicht geben. Neben der Universität liegt ein wundervoller Soldatenfriedhof, der von den Amerikanern für die Opfer des Weltkrieges angelegt wurde. In der Nationalbibliothek ist unter anderm ein sehr schöner und grosser Lesesaal, in dessen Regalen Bücher in allen Sprachen zu finden sind. Vom Dach der Bibliothek wurde in den Unruhen zu uns auf den Berg gemorst. Ein Bild der sehr schönen Bibliothek werdet Ihr sicher schon öfters gesehen haben. Von der Universität selbst haben wir nur sehr wenig gesehen, dagegen mehr vom Amphitheater. Unter der offenen Bühne ist dort ein Saal in dem schon bedeutende Reden gehalten wurden, besonders von den zionistischen Führern. Der Hintergrund des Theaters ist der schönste, den man sich für eine Freilichtbühne denken kann, nämlich die Berge bezw. Wüste Juda mit dem wundervollen Blick auf das Tote Meer. - Morgens hatten wir uns ausser dem Skopus noch die Tnuvah eingehend angesehen, die modernst eingerichtet ist, wie der schönste deutsche Milchhof. So werden zum Beisp. bei einer Sauermilchherstellung die schon gebrauchten, schmutzigen Gläser in einen Waschapparat getan und gehen von da an am laufenden Band weiter bis sie nachher frischgefüllt und verkorkt von der Maschine abgenommen werden. Dabei arbeiten nur 2 Menschen. Dort geht überhaupt alles am laufenden Band. Die Milch wird in grosse Bottiche geschüttet, automatisch gewogen und sterilisiert und sofort durch Rohre in die verschiedenen Abteilungen für Butter, Käse u.s.w. durchgegeben. - Das alles haben wir uns morgens angesehen, haben dann gegessen und dann kam der Reinfall, nämlich der Kaufmann von Venedig, der von der Habimah (nicht dem „Ohel”) in einem grossen Kino als Gastspiel gegeben wurde. Nach Deinen Beschreibungen von „Dibbuk”, lb. Pips, ging ich mit grossen Erwartungen in die Habimah. Und in diesen Erwartungen bin ich vollständig getäuscht worden. Dass die Hälfte ausgelassen wurde, und nach der Gerichtsscene schon Schluss war, war nicht so schlimm. Schlimm war, dass die rein schauspielerischen Leistungen fast nichts wert waren. Der Shylock ging noch an; dagegen waren fast alle andern Schauspieler weit unter einem gewöhnlichen Durchschnitt. Zwei Shakespeareaufführungen vom Kulturbund, die ich in Krefeld sah, waren weit mehr wert, als diese Vorstellung von der jüdischen „Nationalbühne”. Ich will nun für diese Woche Schluss machen. Die Beantwortung Eurer Briefe will ich mir für die nächste Woche aufsparen. Bis dahin seid vielmals gegrüsst und geküsst von Eurem Ernst.
Übrigens sind unterdessen die Haare wieder geschnitten worden.