Ernst Loewy an seine Eltern, 1. Januar 1937

Freitag, den 1.1.37.

Prost Neujahr! In Gedanken. Nun ist schon wieder ein Jahr herum, schon der zweite Jahresanfang, den ich nicht mit Euch zusammen verlebt habe. Wie immer derselbe Wunsch. Hoffentlich bringt dieses Jahr uns mehr gutes als das Letzte. Und vor allen Dingen sehe ich hoffentlich in diesem Jahre wenigstens einen von Euch wieder. Wenn ich auf das letzte Jahr zurückschaue, so kann ich nur immer sagen, dass es mir viel Schönes gebracht hat und wie ich zu Ende des jüdischen Jahres gesagt habe, so kann ich auch jetzt noch einmal sagen, dass ich in diesem Jahr sehr viel weiter gekommen bin - in jeder Beziehung. Ich habe unendlich viel gelernt - in der Arbeit und besonders in geistigen Dingen. - Hier merkt man garnichts von Neujahr, kaum, dass man sich Prost Neujahr zugerufen hat. - Euern lb. Brief mit Bild und Briefausschnitten vom 22.12. habe ich erhalten und danke Euch recht herzlich. Den Kamm habe ich leider noch nicht erhalten. - Mittwoch abend um 10 Uhr hörten wir Teile des Toscanini-konzerts. Es war einfach grossartig. Ich bin nicht sehr musikalisch, aber, dass da ein Genie den Taktstock geführt hat, hört bald der Unmusikalischste. Wir hörten die „Unvollendete” von Schubert, Nocturno und Scherzo aus dem „Sommernachtstraum” von Mendelssohn und die Oberonouvertüre von Weber. Es wurde nur der zweite Teil des Konzerts übertragen. Der erste Teil bestand aus einer Ouvertüre zu einer unbekannten Oper Rossinis und der 2. Symphonie von Brahms. Fritz war dort und sagt, der Eindruck des Konzerts liesse sich garnicht beschreiben. Der High Comissioner war natürlich persönlich anwesend. Eröffnet wurde das Konzert durch „God save the King” und die [..]. Am Ende ein rasender Applaus - minutenlang. Am Montag dirigiert Toscanini in Jerusalem noch ein Beethovenkonzert und dann fährt er nach Kairo. Noch reichlich Unternehmungsgeist für einen Menschen an die 70 Jahre. Er dirigierte hier ein Orchester von 60 Leuten, alles Juden. - Am Tage, wo Euer letzter Brief abgeschickt wurde, am 22.12., war es neun Monate her, dass ich von zu Hause abgereist bin, heute, wo er ankommt, ist es neun Monate her, dass wir hier in Erez sind, und zwar sind wir heute vor neun Monaten spät abends an der Küste Palästinas

gelandet und am 2.4. morgens in der Frühe in den Haifaer Hafen eingefahren. Ach, das alles werde ich nie vergessen. In der Zeit hat die Schiffahrtslinie der Tel-Aviv schon lange Pleite gemacht. - Dass Du Dir so allmählich das Rauchen abgewöhnst, lieber Pips, muss ich lobend anerkennen. Wir rauchen hier natürlich alle nicht. Die Chawerim bekommen monatlich eine bestimmte Anzahl von Zigaretten, auf die auch wir ein Anrecht hätten, doch hat die Gruppe geschlossen abgelehnt. Es gibt andere Gruppen in denen wohl geraucht wird. - Kakel war eben hier im Zimmer und hat ein paar Grüsse angeschrieben. - Was Du von den Verwandten schreibst, interessiert mich natürlich sehr. Mit Onkel Willi ist es ja wirklich fürchterlich. Ist denn dort auf keine Weise zu helfen? Und Kronach? Und dazu die Zustände in Waidhaus - es ist wirklich ein Elend. Hoffentlich kommen Ernst und Bruno bald nach hier. Ich verstehe nur eins nicht - weshalb alle nach Südafrika wollen, oder Argentinien, aber keiner nach Erez. Für die meisten ist es doch kein Unterschied. Durch Auswanderung nach Afrika und Amerika lässt sich doch schliesslich die Judenfrage nicht lösen. -

Über Ilse wollt Ihr etwas wissen. Über sie ist eigentlich garnichts besonderes zu schreiben. Dass sich alles um sie drehen soll, ist natürlich Wahnsinn. Sie ist eine gute Chawerah, nicht mehr und nicht weniger als alle andern unserer Mädels. Dass sie ein wenig angibt ist richtig, aber schliesslich hat jeder seine Fehler. Im grossen ganzen ist sie ein ordentliches Mädel, nicht besonders intelligent und in ihren Urteilen sehr flach. Aber etwas Besonderes wüsste ich über sie wirklich nicht zu schreiben. Dass Ilse in Kw. Schiller ein Referat gehalten hat, ist natürlich richtig. - Vor ein paar Minuten sind die jungen Musiker aus Jerusalem gekommen, diesesmal sind es sogar sieben. Ich werde Euch nächste Woche ein wenig drüber schreiben. Für diese Woche Schluss. Seid tausendmal gegrüsst und geküsst von Euerm Ernst.

Schickt mir bitte bald wieder Luftpostkuvert.

8.1.37.

Viel kann ich Euch heute nicht mehr schreiben, da ich an Tante Tinny noch einige Zeilen schreiben will. Ich beantworte Euren Brief dann erst in der nächsten Woche. Neuigkeiten gibt es hier sonst auch kaum. Gestern ist die zweite Gruppe, die noch nicht im Theater war, in die Stadt ins Kino gefahren; mit dem „Dibbuk” ist es damals nämlich nichts geworden. - Ein Blümchen für Tante Tinny kann ich leider nicht einlegen, da es augenblicklich keine einzige Blume hier gibt. Schliesslich haben wir doch jetzt auch Winter, und Blumen wird es erst im Frühling geben. Dann werden wir uns vor unsrem Hause übrigens auch ein Blumengärtchen anlegen. Und nun Schluss für dieses mal. Habt viele Küsse von Eurem Ernst.