Richard und Erna Loewy an Sohn Ernst, 18. September 1936
Krefeld, Freitag, 18.9.36.
2. Tag Roschhaschanah 5697.
Mein lieber Junge!
Obwohl heute Rosch haschanah ist, will ich Dir doch schreiben, damit morgen früh 9 h der Brief ab München weitergehen kann; er soll dann schon am 23./9. in Haifa sein. Klappt es für morgen nicht, dann geht der Brief übermorgen, 20/9., ab München-Triest-Schiff-Jaffa, wo er erst am 26.ten eintrifft. Also eine Differenz von 3 Tagen. Wir richten uns immer genau nach den Postschiffen, die in der C.V. Zeitung stehn. Schreib uns bitte mal, ob das so klappt.
Wir hatten heute nun den gewohnten Brief erwartet, leider ist er ausgeblieben, oder er müßte noch nachmittags kommen.
Ich hoffe, daß Ihr alle gesund & froh ins neue Jahr gekommen seid. Sehr viel werdet Ihr in Anbetracht der Lage ja nicht vom Feste haben, wohl kaum etwas vom Gottesdienst sehen. Ich bin heute früh aufgerufen worden & hast auch Du Dein Mischeberach bekommen. Daß überhaupt die Gedanken Deiner Eltern an diesen Tagen besonders bei Dir sind, mein lieber Junge, kannst Du Dir wohl denken. Unsre innigsten Gebete waren für Dich & für Euch alle dort & für unser Land. Wollte Gtt., daß der neue kommandierende General John G. Dile die Ruhe & Ordnung wiederherstellt. Heute, in der Predigt, ermahnte Dr. Bluhm die Gemeinde, nicht zu verzagen & sich ein Beispiel an den „Helden”, die im heiligen Land mutig weiterbauen, zu nehmen! Das ist allerlei vom „Raf”; er bekennt sich wohl allmählich auch zum Zionismus.
Für heute Nachmittag habe ich nur Lore zum Kaffee eingeladen. Das Mädel sieht prachtvoll aus. Sie wird Dir selbst noch anschreiben, wenn sie kommt. - Fritz Rosberg war vor [..] hier; er hätte Dir gestern geschrieben. Mit dem Jungen wird es immer schlimmer. Ein Elend ist das! Und seine Eltern sehen anscheinend nicht die volle Wirklichkeit. Er meint, er bekäme vielleicht zum 1. Oktober eine Lehrstelle in einem [..], er will aber noch nicht sagen, bei wem, weil es noch nicht sicher ist. Was aus dem Jungen nochmal werden soll, weiß kein Mensch!
Ich soll Dich auch von Heinz Jacobus grüßen. Er sagte mir, Kronenberg habe ihm für Dich eine Karte von Kirjath Anavim aus dem Jahre 1928[?] gegeben, er hatte sie aber vergessen mitzubringen & will das heute Abend tun. Du erhältst die also im nächsten Brief. - Onkel Richard schrieb heute, er wolle seinen Freunden in Jerusalem, denen es sehr gut ginge, schreiben, sie möchten sich mal um Dich kümmern, was diese bestimmt tun werden.
Dann kam heute auch von Wien, Tante Tini, ein Brief. Wir sollten Dich grüßen. Sie schreibt, sie hätte eine Karte von einer Nichte von Herrn Kantor (weißt Du dem alten Herrn, bei dem sie war; [..] der Kusine ihrer ehemaligen Schüler) erhalten, Frau Anna Wagner, Lord Melchettstr. 14. Haifa, diese würde sich freuen, wenn du ihr Grüße von Tante Tini überbringen würdest. Also, wenn Dich einmal Dein Weg nach Haifa führen sollte, versäume nicht, dort vorzusprechen. Notiere Dir die Adresse! Dann schreibt sie: „ Aber wenn Ernstchen (!) nach Jerusalem käme & dort das bekannte Ehepaar Moritz Grünfelder aus Saaz aufsuchen würde, diese wohnen zwar zeitweise bei einer Tochter auf einer Farm, diese würden ihn gewiß mit Freuden begrüßen. In Jerusalem zu erfragen bei Dr. Benno Grünfelder (dem Sohn von Moritz G.) childrens physician. (Telefon 1001) Ludwig war auch mit zu Gast, als wir in Saaz waren.”
Die Adresse von dem Neffen Samstag kann Tante Tini leider nicht besorgen. Es seien schon viele Jahre her, seit sie zum letzten Mal Nachricht aus Kronstadt hatte; Karl S.'s Vater habe damals geschrieben, daß er nach Erez gegangen sei. Seitdem habe sie öfter nach Kronstadt-Brassó geschrieben, aber stets sei die Post
zurückgekommen als unbestellbar. Vielleicht sind sie auch ausgewandert oder gestorben. Also schade, das ist aussichtslos!
Auch Tante Hilde schrieb. Ernst ist nun in München, lernt Gärtnerei, als Vorbildung für Erez. Das ist vernünftig; Ernst hatte ja auch schon immer Interesse dafür. Hoffentlich glückt es ihm, bald hinzukommen.
Gerda schrieb aus London, es geht ihr sehr gut. Sie hat wieder Glück gehabt. Bei uns: es geht uns gut, wie immer. Es läuft alles wie am Schnürchen. Bis Montag bleibe ich zu Hause.
Nun etwas, worüber Du Dich wundern wirst & ich bitte Dich, die Sache so delikat zu behandeln, wie sie ist & mir offen & wahr zu sagen, was Du weißt & von der Sache hältst. Lore machte Dir mal eine Andeutung über Ilse. Du schriebst darauf, Ilse hätte sich nichts zu schulden kommen lassen. Ich habe darauf Lore gefragt, was los sein sollte & da sagte mir Lore, unter der Hand sei das Gerücht verbreitet, Ilse bekäme ein Kind! Verbreiterin der Sache sei Wilhelmine Kaufmann, eine Kusine von Manfred Mondel! Gestern sagte mir Lore, Wilhelmine K. habe jetzt erst wieder gesagt, es stimme, sie wüßte es von Verwandten von ihr. Ich habe Lore das natürlich als erlogen ausgeredet & es als Kindergeschwätz hingestellt. Solange diese kleinen Mädchen, in deren jugendlicher Phantasie solche Dinge eine Rolle spielen, so etwas schwätzen, ist es nicht ernst zu nehmen; aber nun hat das Gerücht auf die Erwachsenen (die anscheinend auch gerne schwätzen!!) übergegriffen & da muß man doch ein Interesse von Ilse & ihrer Mutter - die als Einzige noch nichts davon weiß!! - eingreifen, um der Sache die Spitze abzubrechen. Es ist eine Gemeinheit sondergleichen, jemand die Ehre abzuschneiden, der in der Fremde ist & sich nicht wehren kann! Wir haben Manfred M. in Verdacht, irgend so etwas nach Hause wie an seine Verwandten geschrieben zu haben. An ihre Mutter hat Ilse auf keinen Fall sowas geschrieben & bin ich überzeugt, daß die ganze Sache von A bis Z erstunken & erlogen ist. - Was ist Manfred überhaupt für ein Junge geworden? Ich bitte Dich, der Sache mal dort auf den Grund zu gehen; sage aber Ilse kein Wort davon! Eventuell, wenn Du es für richtig hältst, besprich die Sache mal unter 4 Augen mit Eurem Führer Fritz. Man diskreditiert mit solchen Geschichten ja auch die Jugendalijah, ja den Zionismus überhaupt. - Wir wollen vorerst Frau Werth., die ja genug mitgemacht hat im letzten Jahr, davon nichts sagen, sie braucht sich nicht unnötig aufzuregen.
In Deiner Antwort willst Du bitte diese Angelegenheit auf einem separaten Bogen behandeln, da Ilse's Mutter Deine Briefe immer mitliest & ich ihr diese Sache natürlich nicht zeigen möchte. Schließe den Brief zu & schreibe drauf: für Vater.
Bei dieser Gelegenheit nehme ich noch Veranlassung, Dich darauf hinzuweisen, was ich Dir vor Deiner Abreise oft in den letzten Tagen gesagt habe: „laß die Finger von den W.leut! Halte Dich rein von all diesen Dingen & wenn es Dir schwer wird, handle unter keinen Umständen eigenmächtig, sondern besprich alles - ohne Furcht & ohne Scham - mit Fritz. Er wird Dir bestimmt auch in diesen Dingen Führer & Wegweiser sein. Viel Elend ist durch solche Dinge schon entstanden, oft aus Unwissenheit oder Unerfahrenheit. Laß nicht all das, was ich mit Dir, trotz Deiner Jugend, offen & - wie unter Männern - besprochen habe umsonst sein & auch meine heutige Mahnung nicht vergebens sein. Willst Du oder kannst Du zu Fritz - oder sonst einem Erwachsenen der Kwuzah - nicht offen reden, dann weißt Du, daß Dein bester Freund - mit Du offen über alles reden kannst, immer Dein Vater ist & auch sein will. Wir verstehen uns doch immer noch, mein Lieber? - Schreibe mir ruhig auch über solche Dinge, wenns sein muß, & sei immer offen. Dann kommen wir auch am weitesten.
Wie ist das Verhältnis von den jungen Mädchen der Alijat zu den etwas älteren Chawerim & auch zu Euch? Schreib uns auch mal hierüber. Es sind ja viele Dinge, über die wir uns hier noch den Kopf zerbrechen.
II
Würdest Du - nach Deinen Erfahrungen - überhaupt einem jungen Mädel - nach einer Hachscharah, oder auch mit der Jugendalijah - noch raten, herüber zu gehen? Oder wäre manches, was Dich abschrecken würde? - Man spricht ja noch immer soviel von einer gewissen schlechten Moral drüben, daß ich mir selbst, wenn ich eine Tochter hätte, es erst reichlich überlegen müßte. Es kann aber auch sein, daß die meisten derartigen Gerüchte darauf zurückzuführen sind, daß viele Antizionisten abschrecken wollen. Deine Meinung wollte ich mal hören; ich weiß, Du siehst ziemlich kritisch & klar & läßt Dich nicht so leicht verblüffen.
Nun, mein Lieber, will ich schließen. Ich will mich noch was ausruhen. Mutter kann indessen anschreiben. Wenn Lore kommt, auch sie & um ½ 4 soll der Brief fort. Nach dem Kaffee wollen wir etwas spazieren gehen. Das Wetter ist die 2 Tage herrlich; Du weißt ja: ist der Feiertag noch so klein, die Juden haben Sonnenschein! Und dabei sind die Feiertage groß! Also, mein lieber Junge, zum Jom Kippur alles, alles Gute, faste gut & beiß gut an! Ich darf ja nicht mehr fasten. -
Gut Jontef & viele, viele Küsse
Dein Vater.
Mein lb. Ernst!
Hoffentlich habt Ihr die Feiertage gut & gesund verbracht, einschliesslich des Jom Kippurs. Ich werde für Vater mitfasten, er darf es unter keinen Umständen. Wir haben sie sehr ruhig verbracht, auf eine Freude warten wir noch. Heute ist Dein Brief fällig, wir erwarten ihn wie immer mit Ungeduld. Hoffentlich lässt er nicht zu lange auf sich warten. Von dem Geklatsche hat Vater Dir ja lange & breit geschrieben, ich möchte nur wissen, wer das in die Welt gesetzt hat. Ich will nur wünschen, dass Frau Wertheim nichts davon erfährt, bevor wir Deinen Bescheid haben. Wir selbst glauben nicht daran, aber unsere lb. Mitmenschen leider wohl. Irgendwelche Neuigkeiten hätte ich nicht zu berichten, als dass ich heute früh Ernst Hirsch sah, mit einem Hut mit Rand. Er sah ganz ulkig aus. Da der Brief weg soll,
auch Lore noch nicht erschienen ist, will ich für heute schliessen, ein andermal wieder mehr. Möge das neue Jahr für Dich & alle drüben gut begonnen haben, weiter viel Glück & alles Schöne. Viel herzliche Grüsse & Küsse
Deiner Mutter.
Wenn Ihr das Negativ von dem letzten Bildchen habt, schickt es einmal mit. Vater möchte noch ein Bildchen haben, wir senden es dann wieder zurück.