Erna Loewy an Sohn Ernst, 1. Oktober 1936

Donnerstag, den 1.10.36.

Mein lb. Junge!

Ich will schonmal wieder einen Brief anfangen, damit wenn morgen s. G. w. wieder Nachricht von Dir kommt, der Brief gleich abgehen kann. Grossmutter ist zur Synagoge, heute am Sukkoth, ich gehe morgen, da ja immer jemand zu Hause sein muss, damit Öppken die Tür nicht aufmachen muss. Uns geht es allen gut, bis auf Grossvaters Husten, aber den sind wir ja um diese Zeit gewohnt. Grossmutter hat sogar 7 Pfd. zugenommen, auch Vater schreibt vergnügt von unterwegs. Du siehst, hier klappt soweit alles & will ich nur hoffen, dass auch Du gesund & vergnügt bist. Nur eins wirst Du Dir nicht vorstellen können. Hier ist es schon sehr kalt, wir laufen schon in Wintermänteln herum & haben die Öfen an. Ich denke mir, dass Ihr noch Sommer habt & keine kalten Füsse bekommt. Habe ich Dir eigentlich geschrieben, dass ich Dir vorige Woche 10,- Mk sandte? Viel Neues weiss ich nicht, aber einiges wird Dich interessieren. Hans Seligmann ist nach Wien, um sich an einem dortigen Krankenhaus vorzustellen. Wenn es klappt, kommt er als Assistenzarzt dorthin. Herbert Meyer fährt am 20 ds. nach Kapstadt event. nach Johannesburg. Tante Rebekka ist nach Arnheim, um sein Gepäck fertig zu machen & sich zu verabschieden. Er fährt mit noch 2 jungen Leuten, die drüben eine Hausschuhfabrik anfangen wollen. Dann hat gestern eine Tochter vom dicken Brückmann geheiratet, die auch nach Südafrika gehen. So geht einer nach dem andern weg, die ganze Jugend. Fritz Rosberg trägt den Arm in einer Binde. Er ist mit dem Fahrrad von einem

Auto gestreift worden & hat die Hand gequetscht. Ich will morgen mal hingehen & ihn besuchen. Er läuft noch immer mutterseelenalleine herum ohne Freunde & Tätigkeit. Was aus dem noch mal werden soll, wissen die Götter. Lore Lindenbaum sprach ich gestern, sie ist zu Besuch hier, fährt aber morgen wieder nach London, um dort ein Polytechnikum zu besuchen. Ich glaube, damit ist meine Weisheit zu Ende, ich höre ja auch sehr wenig, da ich fast garnicht rausgehe. Ich mache meine Besorgungen & gehe wieder heim, mit Fremden macht man ja doch nur schlechte Erfahrungen. Siehe Fernichs! Morgen Abend kommt Vater wieder nach Hause, dann haben wir wieder 2 gemütliche Tage, auf die ich mich die ganze Woche freue. Weiter will man ja auch heute nichts. Ich bin glücklich & zufrieden, wenn es Dir, mein lb. Junge, recht gut geht & hier alles ruhig verläuft. Nach Vergnügungen steht uns doch nicht der Kopf. Hoffentlich macht Ihr Euch nur so viel Freude wie Ihr könnt & wenn es jetzt, was doch anzunehmen ist, Ruhe gibt, werdet Ihr ja wohl auch auf Eure Kosten kommen & das Land kennen lernen. Was arbeitest Du jetzt? Hast Du in dem halben Jahr schon viel gelernt & wie geht es mit der Sprache? Hat Onkel Richard was von sich hören lassen, er wollte Dir Adressen seiner Freunde in Jerusalem besorgen. Vielleicht hat er auch den betreffenden Leuten direkt geschrieben & Du hörst dann von ihnen.

Nun will ich für heute schliessen, mein gutes Pipslein, es ist Zeit, das Mittagessen zu richten. Ein schlechter Jontef, ohne Dich & den Pips; aber wir können es uns nicht leisten, dauernd Feiertage zu halten. Wovonn soll dann der Schornstein rauchen? Für heute tausend Küsse
Deiner Dichl. Mutter.