Richard und Erna Loewy an Sohn Ernst, 18. November 1936

Krefeld, 18/11.36.

Mein lieber Junge!

Heute ist Buß- & Bettag, also gesetzlicher Feiertag & da bin ich zu Hause. Seit langer Zeit einmal ein Tag, wo ich auch nichts zu tun habe. Ich kann den Nachmittag, nachdem ich etwas geschlafen habe & die l. Mutter noch [..], nicht besser verbringen, als Dir zu schreiben. Ich habe zwar nichts Neues & nichts Besondres & kann Dir nur von unsrem Wohlergehen berichten. Nur der l. Opa liegt seit gestern zu Bett, er hat sich zu seinem Husten noch den Magen verdorben. Es sind ja seine Monate, in denen er nicht vor die Türe geht, & dann ist es besonders schlimm, immer im geheizten Zimmer sitzen, ist ja auch nicht gut.

Diese Wosche war ich bei Kaufmanns in Gerresheim, da kam gerade ein Brief von Kurt an. Er schrieb, daß er (während Du in Tel Aviv warst) er gerade auf 3 Tage bei Landauers in Jerusalem war. Weißt Du auch, daß Kurts Verwandter Dr. Georg Landauer mal ein guter Bekannter von Onkel Richard war? Vielleicht lernst Du ihn mal durch Kurt kennen? Wie stehst Du Dich eigentlich mit Kurt & mit Caruso? Du schreibst nie von ihnen! Auch Ilse erwähnst Du eigentlich nie? Wie bist Du mit ihr & wie mit den andren Jungens & Mädels? Nur einmal schreibst Du von den „Grüppchen”. Ich finde das ja nicht schön, daß sich solche bilden, ich dachte auch, Ihr müßtet eigentlich alle zusammenhalten, wie Pech & Schwefel! Du schreibst: „ich stehe eigentlich außerhalb dieser Grüppchen.” Wenngleich ich diese Bildung von Guppen, wie gesagt, nicht billige, kann ich es doch nicht verstehen, daß Du ganz „außerhalb” stehst. Weshalb? Sonderst Du Dich selbst von den andern ab, oder sind sie Dir gegenüber abschließend? Daß ein Sichabsondern falsch ist, dürftest Du an Fritz Rosberg gesehen haben; er ist dadurch zum Eigenbrödler geworden & das Ende ist seitens der andren Unduldsamkeit & - schließlich noch Spott & Hohn! Ich möchte nicht hoffen, daß dies auch bei Dir der Fall sein könnte! Wenn man schon mit andren zusammen ist & besonders

so sehr auf einander angewiesen ist, wie Ihr es doch seid, sollte man sich bemühen, auch einander zu verstehen & zusammenzuhalten! Und vor allem: Sich nicht selbst absondern, sondern alles mittun & überall mit dabei sein, auch wenn einem mal etwas nicht paßt. Ich weiß, in manchen Dingen bist Du selber ja auch sonderbar genug & hast dann Mucken, besonders z. B. wenn es sich um Turnen, Sport & dergl. Dinge handelt. Ich hoffe, daß sich das bei Dir geändert hat & Du deine Fehler, die Du hier immer gemacht hast & Du die hoffentlich selbst erkennst, abgelegt hast. Du weißt, daß das Land drüben harte Männer braucht, die auch im körperlichen Einsatz ihren Mann stellen können & nicht nur Männer, die Bücherwürmer sind! - Schreibe uns doch mal ganz ausführlich über diese Dinge & wie es kommt, daß Du schreibst, es ist keiner da, mit dem Du Freundschaft fürs Leben schließen könntest. Zuerst standest Du doch so gut mit Caruso, mit Küken, mit Heinz Brotzen, & so weiter, weshalb hat sich das so geändert? Ich möchte gern wissen, wie Du mit jedem einzelnen Jungen & Mädel stehst, auch wie mit Fritz. Was ist der neue für ein Junge? - Wie vertragen sich die andren untereinander & wie stehen sich die „Gruppen” zueinander? Du schreibst sogar, sie könnten sich untereinander nicht „riechen”! Wie kann das passieren? Sorgt denn Euer Führer nicht dafür? Ihr lebt doch miteinander, Tag & Nacht, & da müßte es doch klappen! - Kurt schreibt darüber gar nichts, auch Ilse schreibt nichts darüber, d. h. deren Briefe sind so inhaltslos & oberflächlich, daß man überhaupt kaum Einblick in all Eure Dinge gewinnen kann. Bei ihr ist alles „knorke” & „groß”, sie schreibt z. B., daß sie sich „Schuhe gekauft habe, die von allen bewundert werden” & daß sie sich in Jerusalem besonders die „Menschen” angesehen hätte. So etwa sind die Briefe, immer kleine lose Fetzen, flüchtig geschrieben, in einem schlechten Deutsch hingehauen, durchsetzt mit in Iwrith geschriebenen Wörtern, die keiner von uns lesen noch verstehen kann. Wir sind deshalb nur auf Deine Briefe angewiesen & diese müssen drum doppelt

II

offen & ehrlich & ausführlich sein. Ich hoffe, daß Du dies auch weiterhin bist, daß wir immer im Bilde sind & uns keine Sorgen machen müssen. Und vor allem noch eins: wenn Dir auch mal etwas, was die andren tun, nicht in den Kram paßt, sondere Dich nicht ab & mach' den Dickkopf, sondern tu mit über, denk wir es Fritz Rosberg geht, der immer anders war als alle andren, das der drum zum Narren für alle wurde. Ich hoffe, daß Du mit allen gut stehst, was natürlich nicht ausschließt, daß man mit dem einen oder andern sich besonders gut steht, daß unter Umständen sich wirklich ein „Grüppchen” bildet, das besonders zusammenhält. Außerhalb allen zu stehn, ist immer falsch! Ich erwarte also darüber Deinen genauen Bericht.

Frau Kaufmann hat die Absicht, in nicht zu ferner Zeit Euch zu besuchen, hoffentlich gibt es was. Ich würde mich ja sehr freuen, einmal einen authentischen Bericht zu erhalten.

Von hier: die l. Mutter traf dieser Tage Ruth Müllers & fragte sie, weshalb Lore nicht mehr käme. Da sagte Ruth: „Die kommt doch nicht mehr zu Ihnen! Die hat ja längst einen neuen Freund!” Mutter sagte, deshalb dürfte sie doch noch kommen! - Am Freitag oder Samstag (ich bleibe diese Tage hier) gehe ich mal zur Synagoge & da werde ich Lore vielleicht sprechen. - Ja, siehst Du, mein lieber Junge, so geht das im Leben! Aus den Augen, aus dem Sinn! Aber mach Dir nichts draus, das ist schon immer so gewesen! Der Freund dürfte wohl Heinz Jacobus sein, wenn ich nicht irre! - Heute Abend ist Kulturbund, Rezitator Bernstein, da werd ich mal hingehen. Besondres ist sonst nicht. Nun viele Küsse & [..] Dein Vater!

Mein lieber Junge! Heute ist mal so ein richtiger Tag zum Faulenzen& den habe ich auch gründlich ausgenutzt. Was Vater Dir geschrieben hat, muss ich voll & ganz unterstreichen. Sondere Dich nicht von allen

& allem ab, das ist die grösste Dummheit, die man im Leben machen kann. Als erschreckendes Beispiel siehe Fritz Rosberg. Walter Stern & diese Jungens, sind sie denn nicht nett zu Dir, dass Du Dich keinem näher anschliessest? Alle 30 können natürlich nicht Deine Freunde sein, aber einige darunter müsstest Du doch finden. Ich denke viel darüber nach & kann es nicht begreifen, dass Du ausserhalb stehst & vielleicht den Eigenbrödler spielst. Du bist doch sonst ein so vernünftiger Junge, mache aber in dieser Hinsicht auch keine Dummheiten. Später würdest Du es sehr bereuen. Mach also alles mit, frisch drauf los & lass Dich von niemandem auslachen. Ich fände das fürchterlich.

Dass Lore einen andern Freund hat, wundert Dich doch sicher garnicht. Soclhe kleinen Mädchen wollen doch Unterhaltung haben & sind viel zu eitel, ohne Freund hier herumzuspazieren. Etwas besonders Neues wüsste auch ich nicht. Hier geht alles seinen alten Gang, die einzige Freude sind immer Deine lb. Briefe. Diesen hier beantworte uns einmal ganz rückhaltslos, damit wir uns keine unnützen Sorgen machen. Schreibe einmal ganz offen, nur für Deinen Vater & Deine Mutter & verheimliche nichts. Tausend gute Wünsche & Grüsse & Küsse Deiner Dichl.
Mutter