Richard und Erna Loewy an Sohn Ernst, 8. Januar 1937
Krefeld, 8.1.37. Freitag.
Mein lieber Junge!
Pünktlich wie der Glockenschlag kam heute Deine Post & zwar v. 29.12.-1.1. Vielen Dank, wir freuen uns wie immer damit & vor allem über Dein Wohlbefinden.
Nun muß ich Dir gleich eine traurige Nachricht geben: Onkel Willy ist am 5. ds. gestorben & gestern beerdigt worden. Es ist sehr traurig! Er hat durch seinen Schlaganfall, den er vor etwa Jahresfrist gehabt hatte, sehr zu leiden gehabt & war der Tod eigentlich eine Erlösung. Der Herr gebe ihm Frieden! So geht einer nach dem andern hin, von uns 8 Geschwistern sind wir nun noch zu vieren. - Obwohl ich Willy seit 7 Jahren nicht mehr gesehen habe & ich dies nicht besonders empfang, ist es doch schmerzlich zu wissen, daß man sich nie, niemals wiedersehen kann. - Onkel Willy hat viele schwere Jahre & viel Leid mitmachen müssen. - In seiner letzten Karte, mit der er sich für die 5.- M., die wir seinem Jungen sandten, bedankte, schrieb er: „ Die letzten Wochen haben mir noch den Rest gegeben.” Es war wirklich der Rest. - Onkel Ludwig, Onkel Carl, Tante Hilda & Edith waren mit zur Beerdigung.
Bei dieser Gelegenheit, wo von Tante Hilda die Rede: Ernst Lamm ist nicht auf die Haschiwah gekommen, sondern ist seit 1.1. auf „Landwerk Steckelsdorf bei Rathenow” auf Hachscharah; 45 Jungens & Mädels. Nun wirds ja mit ihm dann auch Ernst, sodaß er wohl eines Tages in Erez auftauchen wird. Ich freue mich, wenn es ihm gelingt.
Nun zu Deinem Brief: Daß es bei Euch geschneit hat, ist wirklich ein Wunder, denn hier - hat es überhaupt noch nicht geschneit! Wäre ich nicht im Sauerland gewesen, hätte ich in diesem Winter noch keinen Schnee gesehen! Daß Ihr nun Öfen bekommen habt, ist sehr richtig, denn man muß sich doch auch, wenn
man kalt ist oder durchnäßt ist, wärmen & trocknen können. Ich wollte Dich überhaupt noch darauf aufmerksam machen, daß Du Dich nicht unnötig bis auf die Haut durchregnen lassen sollst; man bekommt davon den schönsten Rheumatismus, den man in seinem Leben nicht mehr loswird & worunter man im späteren Alter sehr viel auszustehen hat. Ich kann ja ein Liedlein davon singen. Es ist nämlich so, daß es einem als blutjunger Kerl, so wie Du, gar ncihts ausmacht, wenn man mal patschnaß bis auf die Haut wird, man wird ja schoon wieder trocken. Es bleibt aber nicht in den Kleidern, sondern zieht in die Knochen. Man merkt es erst später. Wie leichtsinnig sind wir da mit unsrer Gesundheit im Felde umgegangen, es hat uns ja damals nichts ausgemacht, aber jetzt merkt man die damaligen Sünden. Also, zieh Deine Regensachen an & nimm Dich in acht! - Daß Die Deine schönen hohen Stiefel nicht passen, verstehe ich nicht, sie paßten doch hier?! Oder ist nur die Manchesterhose zu dick? Evtl. schicken wir Dir auch einen Hose mit Breeches, oder kauf Dir dort eine! Du kannst doch auch die helle Karierte tragen, wenn sie kaputt geht, ist es ja nicht so schlimm, doch besser als wenn Du darauswächst! Wenn ich komme, mußt Du mir ohnehin aufgeben, was ich Dir mitbringen soll, es dürfte doch bis dahin manches den Weg alles Irdischen gegangen sein. Ich will heute noch an Frau Kaufmann schreiben, wenn wir uns treffen wollen, es wird ja allmählich Zeit, wenn sie am 21./1. fahren will. Die Bitte um Hausschuhe ist nicht so groß, daß wir sie nicht gerne erfüllen möchten; die l. Mutter hat nur darüber gelacht, weil Du ja hier nie Hausschuhe anziehen wolltest. Aber mit dem herannahenden Alter wird man häuslich & bequem, was? Daß Du den Kamm nicht erhalten hast, ist schade. Mutte hatte einen besonders guten gekauft, der wohl einen andren Liebhaber gefunden hat. Nun behilf Dich mal mit Deinem Kleinen,
2)
bis Frau Kaufmann Dir einen neuen mitbringt. - Ob das Weiten der Stiefelschafte zu machen ist, bezweifle ich sehr. Laß sie Dir nur nicht verpfuschen!
Es freut uns, wenn Du in der Stadt Onkel Richards Bekannte besuchst. Es ist aus gesellschaftlichen Gründen schon wertvoll, wenn man Verbindungen hat.
Lore's Freundschaft scheint wohl wieder von vorn anzufangen. Sie läßt sich wohl gern photographieren? Ich hoffe sie heute Abend in der Synagoge zu sehen.
Die Grüße von Kakel bitte zu erwidern, wir hätten uns gefreut.
Was Du über Deine Arbeit schreibst, interessiert uns sehr, wenn wir darauf auch nichts zu antworten haben. Gib uns aber bitte immer Bericht darüber. Sieh Dich bei allen Arbeiten, die Du zu machen hast, nur tüchtig um, daß Du alles richtig und sorgfältig machst & viel lernst. Alles was man kann, ist wertvoll. Und gewöhne Dich an ziemlich saubere und ordentliche Arbeit. Du weißt, flüchtig hingehauene Arbeit ist nicht viel wert & wird nicht gern gesehen - und auch schlecht bezahlt. Wie man es in der Jugend lernt, macht man es sein Leben lang.
Schön, daß Ihr jetzt dauernd eine Ärztin habt; in einer solch großen Kwuzah ist es eigentlich auch unerläßlich, daß dauernd ärztliche Hilfe zur Stelle ist. Daß Euer Zahnarzt Euch nicht nur die kranken Zähne repariert, sondern auch etwas für Euren Geist tut, finde ich sehr schön! - Habt Ihr übrigens nicht so etwas wie eine „Freiwillige Sanitätskolonne” bei Euch, mit Ausbildung in behelfsmäßiger Krankenpflege. Wäre eine solche Einrichtung nichts für Eure Freizeit? - Ich habe mich auch schon mal erkundigt, ob Ihr Sport treibt, aber keine Antwort erhalten. Wie ist es damit? 1938 ist Makkabiah - & der Sportklub des RjF aus Kirjath Anavim fehlt! - Ich halte den Sport für Eure körperliche Ertüchtigung für sehr wichtig, aber es scheint, daß damit bei Euch allen nicht viel los ist! - - Das Toscanini-Konzert muß ja wohl eine ganz große Sache gewesen sein. Ich las eben darüber in der C-V-Zeitung. Du hast nun wenigstens einen Teil durch Radio miterleben dürfen. - Daß Du eine Kölner Karnevalssitzung gehört hast, ist originell. Du hörst davon mehr als wir!
Gewünschten Film anbei zurück. Das Bild ist nicht gut. Und von Dir = 0. Wenn Du Dich fotografieren läßt, mußt Du doch die Sonnenbrille abnehmen, sonst hat es ja keinen Zweck!
Von Thomas Mann rezitierte neulich Otto Bernstein im Kulturbund mehrere Kapitel aus „Josef”, ganz hervorragend; allein schon welche Leistung des Gedächtnisses, mehrere Kapitel eines Romans auswendig zu lernen. An der Loge, wo das Rednerpult steht, hoch oben, wurde ein Tisch hingestellt & er kletterte hinauf & setzte sich da oben auf einen Stuhl & rezitierte. Man hätte ihm noch stundenlang zuhören können. - Nun sind wir wieder aus dem Kulturbund ausgetreten. Ich bin meist doch nicht da & Mutter hat für manches kein Interesse. Für das Geld geht sie lieber ins Kino. - Für die Marken Dank! Ich hab wohl die meisten davon. - Dank für Dein „Prost Neujahr!” Ja, 1936 war für uns ein ganz ereignisreiches Jahr durch Deine Abreise. Und immer wieder: wir sind trotz der Entfernung froh, daß es so ist, denn wir wissen Dich froh & zufrieden!
Mit dem Rauchen-Entwöhnen ist es leider nichts geworden: ich qualme wieder wie ein Schlot, aber nur Pfeife & Zigarren, keine Zigaretten. Aber Deine teure Mama - erschrick nicht - beginnt Zigaretten zu qualmen!! - Wenn Ihr es Euch nicht angewöhnt, umso besser! - Du meinst, weshalb alle nach Afrika oder Amerika wandern, so ließe sich doch die Judenfrage nicht lösen? Diesen Leuten liegt ja zumeist nichts an der Lösung der Judenfrage, sondern nur an ihrer eigenen Existenzfrage. Und diese ist oft in Afrika leichter zu lösen als in Erez. Mit Südafrika ist wohl jetzt auch Schluß, da neue Imigrationsbestimmungen kommen. Ernst Levy ist seit ca 8 Tagen schon fort, er fuhr über Haifa, Paul heiratet nächste Woche & fährt nach. - Nun genug, Mutter braucht auch Platz! Viele, viele Küsse & [..]
Dein Vater.
Mein lb. Junge! Selbst unser alter Briefträger hat Spass daran, wie pünktlich Deine Briefe immer kommen. Heute früh klingelte er & rief, der fällige Brief. Meinen schönsten Dank für Deine lb. Zeilen, unser Wunsch ist, dass Du immer zufrieden bleibst. Uns selbst geht es G. s. D. auch gut, verhältnismässig auch den
III
alten Herrschaften. Nur der Freiburger Fall ist recht traurig, aber daran kann man nichts ändern. Schicksalsschläge muss man nehmen, wie sie kommen, danach wird man nicht lange gefragt. Ernst Lamm scheint ja auch nun auf dem Wege nach Erez zu sein, ich würde mich freuen. Dass Deine hohen Stiefel nicht passen kann ich nicht begreifen. Hier hattest Du sie doch auch mit der langen Hose an, sind denn Deine Beine dicker geworden? Fachleute wissen sicher einen Ausweg, ein Grund, dass Du mal in die Stadt musst. Wenn Du mal privat Besuche machst, zieh Dich nur immer gut an, dafür hast Du ja all die schönen Sachen & komm nicht wie ein Stromer daher. Ein altes Sprichwort sagt schon, wie Du kommst gegangen, so wirst Du auch empfangen. Hoffentlich triffst Du die Freunde von Onkel Richard auch an, ich möchte gerne, dass Du sie kennen lernst & wenn Du sie das erste Mal nicht triffst, versuche es immer wieder, wenn Du nach Jerusalem kommst.
Schnee habe ich noch keinen gesehen dieses Jahr; umso mehr Regen. Der Erdball hat sich scheints verschoben, jetzt habt Ihr den Schnee & wir den Regen. Ich freue mich immer, dass Du seit Deiner Abreise nichts zu bereuen hast & Dein Rückblick auf das letzte Jahr so gut ausfällt. All die jetzt gehen, gehen ohne Anhaltspunkte & fangen erst da an, wo Du vor einem Jahr standest, Du hast diese Arbeit G. s. D. zu Deiner Zufriedenheit hinter Dir. Wie Vater sagt, es wird schon werden. Heute habe ich dem Opa die erste Apfelsine gekauft, Stück 15 Pf. Ich selbst habe
noch keine gegessen. Luftpostpapier & Umschläge sandten wir Dir gestern für längere Zeit genug. Heute fügen wir kein Bild bei, sondern das Negativ & mal wieder einen Antwortschein. Vom Kölner Karneval haben wir noch nichts gehört, also auch da kannst Du trotz der Entfernung mehr mitreden als wir. Aus dem Kulturbund bin ich nicht wegen Interessenlosigkeit ausgetreten, sondern weil er dieses Jahr sehr wenig bietet & mir dafür 2,63 zu viel Geld war. Dann gehe ich lieber alle 4 Wochen mal für 50 Pf. ins Kino & spare die Marken. Pips verpatzt mich überhaupt gründlich bei Dir. Nun habe ich mal 3-4 Zigaretten geraucht & das wird schon an den Sohn berichtet, aber wie er jetzt in seinen Ferien gequalmt hat, das hättest Du sehen müssen. Na, bald geht ja die Reiserei wieder los, da wird ihm schon das Qualmen vergehen. Ich habe schon oft gedroht, ich schreib's dem Ernst, aber scheinbar war er dafür nicht bange, es hat nämlich nichts genutzt. Nun noch ein Wort in aller Freundschaft zu Dir. Schön hast Du ja nie geschrieben, aber mit der Zeit legst Du garkeinen Wert auf Deine Schrift, sodass ich Dich mal daran erinnern möchte, dass Du es besser kannst als in Deinen letzten Briefen. Mit anderen Worten, lb. Pipslein, schmier nicht drauf los. Nun muss ich leider schliessen, der Brief wird sonst zu schwer. Neues hat sich sowieso nicht zugetragen& meistens taugt es auch nichts. Gleich gehen wir in die Synagoge & da werden wir von allen Seiten immer gefragt, wie geht es dem Ernst.
Für Deine guten Wünsche zum neuen Jahr herzlichen Dank,
& tausend Küsse Deiner Mutter.