Der Briefwechsel

Die meisten seiner Briefe, die er während der mehr als zweieinhalbjährigen Trennungszeit an seine Eltern richtete, schrieb Ernst Loewy in Kirjat Anavim.[18] Allein er verfasste rund 500 eng beschriebene Seiten, während das Konvolut der Schreiben seiner Eltern an ihn noch umfangreicher ausfiel. Die Korrespondenz begann bereits während der Vorbereitungsphase im Hachschara-Lager Schniebinchen und endete in der Zeit der Buchhandelslehre in Tel Aviv, kurz bevor die Eltern in Palästina eintrafen. Loewys erstes überliefertes Schreiben ist eine Postkarte vom 15. Dezember 1935 von der Zugfahrt von Krefeld nach Berlin, sein letztes ein Brief aus Tel Aviv vom 19. Oktober 1938. Die Briefe der Eltern sind hingegen erst seit der Ausreise von Ernst im März 1936 überliefert; das letzte Schreiben aus Krefeld ist auf den 2. November 1938 datiert.

Die Briefe aus Palästina wurden in aller Regel wöchentlich verfasst, während die Eltern und Verwandten in Krefeld häufig auch unabhängig voneinander schrieben, was meist der Vertretertätigkeit von Vater Richard geschuldet war, der oft im Rahmen seiner Verkaufstouren Briefe an den Sohn richtete. Ernst seinerseits verfasste seine Berichte - vor allem im ersten Jahr - zumeist an mehreren Tagen, wodurch seine Schilderungen etwas Unmittelbares bekamen und in Teilen wie ein Tagebuch wirkten. Dabei wurden bereits in den ersten Briefen einige jener Themen angeschnitten, die den gesamten Briefwechsel durchziehen. Hierbei fällt das für einen Fünfzehnjährigen ausgesprochen ausgeprägte kulturelle Interesse ins Auge, das sich nicht nur auf die Literatur im engeren Sinne erstreckte.

Im Laufe der Jahre verschob sich der Schwerpunkt seiner Berichterstattung von Kirjat Anavim zunächst auf die nähere Umgebung, die Arbeit im Kibbuz und den Unterricht. Hinzu kamen - nach dem Ende des arabischen Generalstreiks im Oktober 1936 -Schilderungen der ersten Reisen nach Tel Aviv und Jerusalem außerdem Berichte über die beiden großen Rundreisen der „Alija“-Gruppe im Lande sowie über einzelne kulturelle Ereignisse. Ab 1937 überwogen dann Diskussionen über Ernsts berufliche Perspektiven sowie über Auseinandersetzungen innerhalb seiner Gruppe. Ein weiteres wichtiges Thema bildete in der ersten Hälfte des Jahres 1937 die Vorbereitung eines Besuchs des Vaters, der vom 1. Juli bis zum 4. August in Palästina weilte. Nachdem Ernst Loewy dann im März 1938 seine Lehrstelle in Tel Aviv angetreten hatte, wurden diese und die Lebensverhältnisse in der Großstadt zu den vorherrschenden Gegenständen der Briefe. Ab Frühjahr 1938 schließlich rückten dann die Erörterungen der Einwanderungsmöglichkeiten der Eltern und des Aufbaus einer Existenz im Lande immer stärker in den Fokus.

Bei der Lektüre und Beurteilung der Briefe ist stets gebührend zu berücksichtigen, dass sowohl Sohn als auch Eltern die Zensurbestimmungen in Deutschland berücksichtigen mussten. Daher konnten die Eltern etwa nur in Andeutungen über die eskalierende Verfolgung und die zunehmende Erschwerung des täglichen Lebens berichten. Dies hatte vermutlich unter anderem zur Folge, dass ihnen der weitgehend ahnungslose Ernst lange Zeit von einer Emigration nach Palästina abriet, da er keine Möglichkeit für eine legale Einwanderung und für den Aufbau einer gesicherten Existenz sah.

Daneben blieb es aber immer auch die Kommunikation eines pubertierenden und nach Orientierung suchenden Heranwachsenden mit seinen fernen Eltern. So spiegeln die Briefe neben Alltäglichem und Politischem auch Ernsts Erwachsenwerden, innere Emanzipation von den Eltern und sein intellektuelles Erwachen. Er, der fast noch als Kind hatte emigrieren müssen, beschrieb das in seinem letzten Brief vom 19. Oktober 1938 so: Die Eltern fänden nicht mehr „das kleine Ernstchen“ vor, „das Euch vor zweieinhalb Jahren verlassen hat“, sondern „einen erwachsenen Menschen“.

Fußnoten

[18] Vgl. - auch zum Folgenden - Loewy, Jugend, S. 18ff.