„Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel.“ - In der SBZ

In Görlitz entwickelt sich eine eigentümliche Lage: Die sowjetischen Truppen wollen die aus den neu-polnischen Gebieten Vertriebenen nicht in das Gebiet ihrer Besatzungszone einwandern lassen. „Als die vielen Menschen über die Neißebrücke kamen, schrien die Russen auf der anderen Seite: ‚Zurück, zurück!‘ Sie wollten uns nicht aufnehmen. Die Polen hatten uns ausgewiesen, und die Russen wiesen uns ab.“ Nach „langem hin und her“, während dem die Vertriebenen bei fast minus 20 Grad in der Kälte ausharren müssen, wird schließlich eine Lösung gefunden: „Vorübergehend wurden wir in Forst in dem Saal des Hotels Kaiserhof untergebracht bis entschieden war, was mit uns geschehen sollte.“

 

Hier wird die große Gruppe aufgeteilt und zunächst in verschiedenen Auffanglagern untergebracht. Familie Müller verschlägt es gemeinsam mit der verwandten Familie Wuttke in ein Lager nach Finsterwalde, während Tante Martha mit ihren fünf Kindern, die bislang alle Geschicke mit den Müllers geteilt haben, in ein anderes Lager eingewiesen werden.

Mit Finsterwalde verknüpft Elisabeth Schütte ausgesprochen schlechte Erfahrungen. „Dort blieben wir insgesamt neun Wochen. Es war ein Lager mit großen Räumen und vielen Stockbetten übereinander. Jede Nacht, wenn das Licht gelöscht wurde, kamen die Wanzen und Flöhe als ständige Bewohner aus den Bettritzen gekrochen und quälten die Menschen mit ihren Bissen. Durch die reichliche Ernährung mit Menschenblut vermehrten sich die Wanzen prächtig und blieben ständig unsere Quälgeister in der Nacht. Am Tage aber machten sich die Mangelernährung und damit der Hunger bemerkbar. Es gab für jeden täglich eine Tasse wässriger Suppe und eine Scheibe Brot. Das war alles. Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel. Wir hatten Hunger. Die Folge davon war, dass die Menschen Löcher in den Lagerzaun schnitten und in die umliegenden Dörfer zu den Bauern betteln gingen. Es waren zu viele hungrige Menschen im Lager. Das Betteln nahm deshalb überhand, so dass die Bauern die Hunde auf die Menschen hetzten und nichts mehr gaben. Der Radius um das Lager wurde deshalb immer weiter gezogen. Einmal bin ich mit Maria Wuttke in ein etwa 5 bis 8 km entferntes Dorf zum Betteln gegangen. Wir klopften an einem Haus an, an dem ein Türschild besagte, dass dort ein Töpfer wohnte. Die Leute waren freundlich zu uns und sagten: ‚Wir können Ihnen nichts mitgeben, aber Sie können sich hier am Tisch bei uns sattessen.‘ Das werde ich nie vergessen, weil ich damals dachte und empfand: Jetzt ist der Himmel auf die Erde gekommen. Diesen Leuten werde ich mein Leben lang dankbar sein.“

Die Folgen des neun Wochen währenden Hungerns machen sich besonders bei den im Lager untergebrachten Kindern und Heranwachsenden bemerkbar. Alfred Müller etwa bricht nach vier Wochen Lageraufenthalt zusammen und muss ins Krankenhaus eingeliefert werden, wo man ihn nur mit Mühe am Leben erhält. Elisabeth Schütte vermutet, dass hier der Grund für den vergleichsweise frühen Tod ihres Bruders zu suchen ist. Ihre Tante Bertha Wuttke, die Mutter von Rudi, Maria und Lena, stirbt im Lager.

Als die Leiden in Finsterwalde endlich ihr Ende finden, werden sämtliche Lagerinsassen in der Umgebung aufgeteilt. Familie Müller kommt bei einem Bauern in Schönborn unter. Die Bedingungen dort erinnert Elisabeth Schütte als schlecht: „Wir wurden dort in einem niedrigen Gewölbekeller untergebracht, in dem man nicht aufrecht stehen konnte. Der Bauer gab meinen Eltern weder Arbeit noch Brot. Mein Vater ging am Tage in die umliegenden Wälder, um nach etwas Essbarem für uns zu suchen. Eines Tages kam er mit einem Reh nach Hause, das sich in der Falle eines Wilderers verfangen hatte. Das teilten wir mit dem Bauern, bei dem wir wohnten. Wir hatten keine Gefriermöglichkeit.“ Daran, wie die Versorgung in dieser Zeit genau funktionierte, kann sich Elisabeth Schütte nicht mehr erinnern. „Vielleicht waren wir das Hungern schon so gewohnt, dass wir es gar nicht mehr bemerkt haben“, blickt sich mit einer Portion Galgenhumor zurück. Immerhin stellen die neuen Lebensbedingungen verglichen mit Finsterwalde einen erheblichen Fortschritt dar.

Neben der Ernährung gibt es weitere Probleme, die gelöst werden müssen: „Es stellte sich in den zwei Monaten, die wir in Schönborn verbrachten, heraus, dass ich so stark gewachsen war, dass mir das einzige Sommerkleid, das ich besaß, nicht mehr passte. Es war viel zu kurz. Meine Mutter ging mit dem Kleid von Haus zu Haus und fragte die Leute, ob sie vielleicht ein passendes Stück Stoff hätten, womit man das Kleid verlängern könnte. Tatsächlich bekam sie einen grünen Stoffstreifen geschenkt, der es ermöglichte, dass ich das Kleid noch einen Sommer lang tragen konnte.“

So ausgestattet kann sich Elisabeth auch in die Schönborner Volksschule trauen, die sie gemeinsam mit ihrem Bruder im Frühjahr 1946 für einige Wochen besucht. Sie habe dort sogar einige Worte Russisch gelernt, entsinnt sie sich, und sei für ihre schnelle Auffassungsgabe gelobt worden. Die Zeichen deuten aber längst in andere Richtung, denn auf Dauer, das steht für Paul und Maria Müller fest, ist die sowjetische Besatzungszone nicht der Ort, an dem sie bleiben wollen. „Da wir alle so viel gelitten hatten unter den Russen, war es das einzige Bestreben meines Vaters, aus ihrem Bereich wegzukommen“, umschreibt Elisabeth Schütte die Haltung ihres Vaters. Ein glücklicher Zufall eröffnet tatsächlich bald den Weg nach Westen:

Weil Cousin Rudi Wuttke während seiner Zeit bei der Wehrmacht zeitweise auf dem Hof von Toni Rosen in Garzweiler einquartiert gewesen ist und während dieser Zeit im Ort einige Freundschaften geschlossen hat, entsinnt er sich des Kontakts und erhält für seine Familie tatsächlich eine Zuzugsgenehmigung. Am Niederrhein seien in der Landwirtschaft dringend Arbeitskräfte benötigt worden, entsinnt sich Elisabeth Schütte und erzählt, dass anschließend auch ihre Eltern die Chance ergriffen hätten. „Wuttkes besorgten uns eine Unterkunft in Garzweiler und schickten uns eine Einreisegenehmigung“, mit der man damals die SBZ noch völlig legal an bestimmten Grenzstellen verlassen darf.

„Wir machten uns also im Juni 1946 auf den Weg nach Westen.“ Aber auch dieser Weg verläuft alles andere als problemlos: „Als wir die Grenzstelle bei Friedland passieren wollten, gab es dort riesige Warteschlangen von Menschen. Als wir am späten Nachmittag an den Grenzpunkt gelangten, wurden mein Vater und wir Kinder noch hindurchgelassen, vor unserer Mutter jedoch wurde der Schlagbaum heruntergelassen, und sie blieb auf der anderen Seite zurück. Wir Kinder haben damals laut geschrien: ‚Unsere Mutter, unsere Mutter muss noch mit‘, dass die Grenzsoldaten Erbarmen hatten und die Mutter noch durchließen.“

Es folgt das damals übliche Procedere: „Wir marschierten auf das Lager Friedland zu. Als wir um die Ecke eines Lagergebäudes bogen, wurde über uns eine Wolke weißen Pulvers gesprüht, dass wir erschraken. Dies war eine Maßnahme gegen Läuse, wie sich herausstellte. Aber die eigentliche Entlausung sollte noch kommen. Wir mussten alle Kleider, unsere ganze Habe abgeben, damit sie in einem heißen Ofen entlaust werden konnten. Wir selbst gingen nackt in eine Dusche, um den Läusen zu Leibe zu rücken. Das geschah mit allen, ob sie verlaust waren oder nicht.“

Damit ist dann aber das Schlimmste überstanden und der Weg ins Rheinland steht offen.