„Da gab es auf einmal einen Knall, und da sagten sie: ‚Der Russe ist da!‘“, erinnert sich Astrid Katthagen an diese Nacht. „Und es dauerte nicht lange, da kamen sie auch schon rein.“ Bei dieser Gelegenheit werden den Menschen auf dem Hof zunächst nur Uhren, Ringe und anderer Schmuck abgenommen. Kurz darauf wird befohlen, dass alle im Ort versammelten Flüchtlinge am Vormittag des 10 März wieder den Weg in ihre Heimatgemeinden antreten sollen, woraufhin sich die Kuschs auf den Rückweg nach Langeböse begeben. Währenddessen holt Vater Hugo mit einem Schwager den an anderer Stelle untergestellten Pferdewagen und folgt der Familie. Die ist angesichts der Umstände froh, als sie ihn endlich mit dem Gespann nahen sieht.
Nun geschieht etwas Unerwartetes und Dramatisches, das das Leben der gesamten Familie dauerhaft verändern wird: „Und dann kam mein Vater. Und wie der bei uns war, kam ein Russenauto an uns vorbei. Es fiel ein Schuss. Ein russischer Soldat sprang ab und kam auf meinen Vater zu und sagt: ‚Deutscher Soldat‘. Da sagt Papa: ‚Nein, ich bin kein Soldat.“ ‚Deutscher Soldat‘, und schob ihn ein bisschen weiter und holt die Pistole raus und schießt ihn tot“ – vor den Augen der gesamten Familie! „Und mein Vater sagt noch: ‚Mein Gott, mein Gott!‘ Das waren seine letzten Worte.“
Astrid ist geschockt und wohl auch traumatisiert: „Wir hatten so viel Angst. Wir kriegten das gar nicht so richtig registriert.“ Auch das, was unmittelbar auf das dramatische Ereignis folgt, ist wenig geeignet, den Vorfall später auch nur in Ansätzen zu verarbeiten: „Wir mussten ihn liegen lassen, wir mussten weiterfahren“, schildert sie noch heute gleichermaßen entsetzt und traurig die Situation unmittelbar nach der Ermordung des Vaters.
Bei einer Pause in einem kleinen, an mehreren Stellen brennenden Dorf verliert die Familie schließlich auch noch ihren Wagen mit der gesamten Ladung. „Da kamen Russen auf uns zu. Der eine stellte sich auf die Deichsel und guckte in den Wagen rein. Da sah er meinen Cousin, der war 16.“ Auch der Junge wird verdächtigt, ein versteckter Soldat zu sein, was er natürlich vehement und wahrheitsgemäß bestreitet. Er muss absteigen, wobei der offensichtlich angetrunkene Soldat bereits seine Pistole gezogen hat. Vetter Horst reagiert geistesgegenwärtig: Er zieht eine Schachtel Zigaretten aus seiner Hosentasche und gibt sie dem Russen - ein Geschenk, das ihm in diesem Augenblick das Leben rettet. Das ändert jedoch nichts daran, dass der Fluchtwagen mit der gesamten Habe der Kuschs zurück bleiben muss.
Aber nicht nur das. Auch eine Tante verschwindet bei diesem Kurzaufenthalt spurlos, und die Familie befürchtet, dass sie, deren zwei Töchter ebenfalls zur Fluchtgruppe gehören, von Rotarmisten mitgenommen worden ist. „Das war alles auf einmal!“, zeigt sich Astrid Katthagen auch rückblickend noch schockiert. Ihr fallen noch weitere Details ein: Ihrer 80-jährigen Oma werden die wärmenden Filzstiefel von den Füßen gezogen, so dass sie in eisiger Kälte den Fußweg ohne jeden Schutz fortsetzen muss.
Auf einem Gutshof wird Zwischenstation eingelegt und übernachtet. Hier trifft der Familienverband auf viele weitere Langeböser, die sich auf dem Rückweg in ihren Heimatort befinden. Jetzt erst macht sich nach den dramatischen Ereignissen des Tages der Hunger bemerkbar. Mit dem Fluchtwagen sind auch sämtliche Lebensmittel verloren, zumal Astrid auch ihren Schulranzen kurz vor dessen Beschlagnahmung auf ihm abgelegt hat. Die Solidarität ist an diesem bedrückenden Ort offenbar nicht übermäßig groß. Als Helene Kusch die Essenden um etwas Nahrung für ihre gebrechliche Mutter und die Kinder bittet, wird das vom Hofbesitzer abschlägig beschieden. „Und ärmere Familien, die keine Bauern waren, die gaben uns dann was“ – eine Erfahrung, die viele Flüchtlinge und Vertriebene im Übrigen auch nach ihrer Ankunft im Westen noch häufig machen sollten. Außerdem sammelt Astrids Großmutter die Krusten von Brotscheiben in einem Taschentuch. „Und wir Kinder bekamen eine, wenn wir besonders großen Hunger hatten.“
Anschließend zieht die Familie bis zu dem aus zwei Häusern bestehenden Weiler Schneidemühl weiter, wo die sich mit weiteren Langebösern für rund drei Wochen aufhält. Später wird Astrid Katthagen über diese Zeit notieren: „Auch in diesen Häusern waren lauter deutsche Flüchtlinge untergekommen. Und auch hier kamen immer wieder Russen herein, und hielten nach jungen Frauen Ausschau. An einem Tag gerieten zwei Russen in Streit, woraufhin der eine den anderen erschoss. Die Deutschen fürchteten sich. Käme jetzt ein anderer Russe vorbei, und sähe den toten Kameraden auf dem Boden liegen, so hätte er alle Deutschen umgebracht, im Glauben, die Deutschen hätten ihn getötet. Aus diesem Grund vergruben die Deutschen den Russen.“