Einer von Astrids Onkeln hat früher als Stellmacher auf einem Hof in dem Langeböse benachbarten 400-Seelen-Dorf Darsow gearbeitet. Dorthin geht er nun und „bettelt“ regelrecht um Lebensmittel. Weil er viele der dortigen Landwirte kennt, findet er für die Kuschs hier auch eine vorübergehende Unterkunft. Aber natürlich ist auch Darsow besetzt. „Ja, und dann kamen die Russen immer und durchsuchten alle Räume. Und wir saßen da und hatten Angst. Die suchten nach Frauen und nach jungen Mädchen.“ Astrid wird bei solchen Gelegenheiten von ihrer Mutter immer in den Arm genommen und – auf Russisch – als „Kind“ tituliert, um so die Gefahr einer Vergewaltigung abzuwenden. „Ich bin beschützt worden. Mir haben sie nichts getan.“[1]
Als sich die Nachricht verbreitet, in Langeböse sei aufgrund der sinnlosen Kampfbereitschaft deutscher Verbände „alles zerschossen“ worden und der Ort kaum noch bewohnbar sei, haben Helene Kusch und ihre Schwestern Angst, auf eigene Faust Erkundigungen vor Ort anzustellen. Als nach einigen Wochen die längst für Tod gehaltene Tante Hilde überraschend wieder zur Familie stößt, ändert sich die Lage, wobei die Hintergründe von Verschwinden und Rückkehr – zumindest für die Kinder und Jugendlichen – weitgehend im Dunkeln bleiben. Gemeinsam mit dieser Tante macht sich Astrid nämlich Mitte Juli 1945 auf den rund fünf Kilometer langen Weg von Darsow nach Langeböse, um zu schauen, „was da los ist“. Die ersten Eindrücke sind nicht sehr ermutigend: „Wir konnten schon von Weitem sehen, dass das Dorf sehr dunkel und zerschossen war; viele Häuser waren abgebrannt. Dann gingen wir zu unserem Haus und Hof. Auch unser Dach war durchgeschossen, die Stallungen waren kaputt. Das Haus war zumindest nicht abgebrannt, wie zum Beispiel das unserer Nachbarn. Wir sahen uns alles an. Im Hof wucherte das Korn, in der Tür des Kuhstalls lag eine tote Kuh. Alle anderen Tiere waren weg und die Ställe geöffnet worden - von wem, wussten wir nicht. In unserem Haus war alles geplündert und verwüstet, die Möbel kaputt. Nachdem wir uns alles angeguckt hatten, gingen Tante Hilde und ich wieder nach Darsow.“ Insbesondere das Bild der verendeten Kuh prägte sich tief in Astrid Katthagens Gedächtnis ein. Das Tier ist aufgedunsen und bietet einen entsprechend schlimmen Anblick.
Nach der Rückkehr beschließt der vorwiegend aus den Schwestern Venske bestehende Familienrat, erneut eine „Delegation“ nach Langeböse zu schicken, um das zerstörte und geplünderte Haus so gut wie eben möglich instand zu setzen. Anfang August macht sich Astrid mit Mutter Helena und Tante Hilde auf den Weg. „Und dann haben wir dort das Haus aufgeräumt und sauber gemacht.“ - Damit endet der Zwischenaufenthalt in Darsow.
[1] Wie groß die Gefahr in diesen Tagen und Nächten war, in denen deutsche Flüchtlingstrecks von der Roten Armee überrollt wurden, belegt ein auf den 9./10. März 1945 datiertes Beispiel aus Groß Damerkow, das nicht weit von Langeböse entfernt liegt. „Gleich darauf kam ein großer Russe rein. Er sagte kein Wort, guckte sich im Zimmer um und ging bis nach hinten durch, wo alle jungen Mädchen und Frauen saßen. Er winkte nur einmal mit dem Finger nach meiner Schwester. Als diese nicht gleich aufstand, trat er dicht vor sie hin und hielt seine Maschinenpistole gegen ihr Kinn. Alle schrien laut auf, nur meine Schwester saß stumm da und vermochte sich nicht zu rühren. Da krachte auch schon der Schuss. Ihr Kopf fiel auf die Seite, und das Blut rann in Strömen. Sie war sofort tot, ohne nur einen Laut von sich zu geben.“ (Zitiert nach Beer, Vertreibung, S. 43f.)