Dem Königsberger Schock folgt bereits am nächsten Tag mit dem ersten Luftangriff auf Braunsberg ein weiteres einschneidendes Ereignis. „Da waren wir so erschrocken, denn da haben wir ja nichts von gewusst, dass das bei uns auch kam“, umreißt Gertrud Zillikens ihre damalige Ahnungslosigkeit. Jedenfalls ertönen in Braunsberg die Sirenen, und auch das kleine Städtchen wird nun Ziel alliierter Bomber. „Ich kann Ihnen sagen, da hat alles gerappelt.“ Die Siedlung, in der Familie Riediger wohnt, bleibt zum Glück aber verschont. Daher kann die in der total zerstörten Bahnhofsstraße wohnende Tante mit ihrem Sohn in die Wohnung aufgenommen werden.
Lange Zeit hat Mutter Katharina versucht, alles Bedrohliche von ihren Töchtern fernzuhalten. „Meine Mutter hat uns gar nichts gesagt. Sie hat wohl gesagt: ‚Kinder, hoffentlich treffen die unser Haus nicht.‘“ Doch was ihnen widerfahren kann, wissen die Mädchen nun aus eigener Anschauung, denn sie haben das zerstörte Braunsberger Zentrum besucht. „Da war schon alles kaputt.“ Zugleich beginnen der sowohl psychisch als auch physisch überforderten Mutter die Dinge langsam aus der Hand zu gleiten. Dabei spitzt sich die Lage nun schnell und dramatisch weiter zu, wobei einige zeitliche Abläufe im Rückblick nicht mehr eindeutig zu rekonstruieren sind. Klar ist hingegen, dass im Frühjahr 1945 der Zeitpunkt heranrückt, von dem an die noch nicht zwölfjährige Gertrud zunehmend mehr Verantwortung für das Schicksal von Mutter und Schwestern übernehmen muss.
Das beginnt mit den aus den Bombenangriffen und dem schnellen Heranrücken der Front zu ziehenden Konsequenzen. Gauleiter Koch hat für Ostpreußen ein striktes Fluchtverbot verhängt, dessen Einhaltung auch in Braunsberg kontrolliert wird. „Wir durften ja nicht fliehen, wir durften nicht gehen. Der Hauswart, der hat gesagt: ‚Ihr bleibt hier!‘“, beschreibt Gertrud Zillikens die verfahrene Situation. Das Verbot wird auch nach dem Angriff auf den Ort selbst aufrechterhalten.
Katharina Riediger ist zu diesem Zeitpunkt angesichts der Zerstörungen und wohl auch aufgrund der lebensbedrohlichen Verwundung ihres Mannes offenbar kaum mehr in der Lage, dringend notwendige Entscheidungen zu treffen. So weigert sie sich, die Wohnung und damit auch Braunsberg und Ostpreußen zu verlassen. „‚Hier gehe ich nicht raus‘, sagte meine Mutter, ‚hier bleibe ich!‘“ Die kleine und angsterfüllte Gertrud versucht gegenzusteuern: „Ich sagte: ‚Mama, die Leute hier sind alle schon weg. Mama, wir müssen gehen!‘“
Ihre Initiative wird zunächst aber dadurch abgeblockt, dass zu diesem Zeitpunkt zwölf Wehrmachtsangehörige in der Wohnung der Riedingers einquartiert wwerden. „So viele Betten habe ich doch gar nicht“, habe ihre Mutter daraufhin wenig realitätsbezogen gesagt. „Die liegen auf der Erde. Meinen Sie denn, Soldaten bekämen hier noch ein Bett!“, lautet die naheliegende Antwort. Zugleich wird Gertrud im Wortsinn deutlich vor Augen geführt, was in Kürze zu erwarten ist. Einer der Einquartieren lässt sie durch sein Fernglas aus dem Fenster schauen: „Und wir sahen auch schon von Frauenburg runterkommend die russischen Panzer.“