„Alles fertig machen. Sie gehen jetzt Richtung Haff.“ - Flucht übers Haff

Die vier Riedigers machen sich – begleitet von der kranken Oma, einer hochschwangeren Tante und einer weiteren Verwandten mit ihren zwei Kindern – als Mitglieder eines kleinen Trecks auf den Weg. Zunächst gelangt man auf ein größeres Gut in der Nähe von Braunsberg, wo man eine Nacht im Schweinestall übernachten kann. Es folgt eine weitere Nacht in einer Scheune im Heu und einige weitere in einer zuvor von Soldaten bewohnten Baracke. Dabei rückt die Front immer näher und Braunsberg ist inzwischen von der Roten Armee eingeschlossen. Eines Morgens heißt es dann: „Alles fertig machen. Sie gehen jetzt Richtung Haff.“

„‚Wie, Richtung Haff‘, sagte da meine Mutter. ‚Was sollen wir denn da?‘“, erinnert sich Gertrud Zillikens noch gut an die dramatische Situation. Den Betroffenen wird erläutert, dass sie über das Eis im Frischen Haff bis auf die schmale Nehrung gehen sollen. So bewegt sich die Gruppe bei Temperaturen um minus 25 Grad über das Eis, dessen Zustand aber alles andere als vertrauenserweckend ist. „Das war schon was brüchig, und das Wasser stand schon bis zu den Knöcheln. Durch all die Trecks, die schon gefahren sind, war das Eis schon ein bisschen mürbe.“

„Da mussten wir ja durch“, umschreibt Gertrud Zillikens die damalige Alternativlosigkeit. Für ihre Familie kommt die Krankheit von Schwester Hedwig noch erschwerend hinzu. Weil es ihr in ihrem geschwächten Zustand nicht möglich ist, das Haff zu Fuß zu überqueren, gelingt es Katharina Riediger, ihre Tochter auf einen der Wagen im Treck unterzubringen. Dann beginnt der Weg mit völlig ungewissem Ausgang. „Als wir da auf dem Eis waren, das war das Schlimmste im Leben, was ich da erlebt habe.“ Gertrud passiert Trecks, deren zu schwere Wagen zuvor im Eis eingebrochen waren. „Da ragten die Hände aus dem Wasser, aber die waren schon gefroren.

Solche Vorfälle wirken ebenso beunruhigend wie die Tatsache, dass der oft stockende Treck sich spätestens nach jeweils fünf Minuten ein Stück weiter bewegen muss, damit der durch Wagen und Menschen ausgeübte Druck auf einzelne Stellen des Eises nicht zu groß wird. Katharina Riediger beschließt angesichts der Gefahren, Hedwig von dem Wagen herunterzuholen. „‚Das Eis, das knackt immer so komisch‘, sagte meine Mutter“, erinnert sich Getrud Zillikens bis heute. Danach stellen sich die vier etwas abseits des Wagens und beschließen, allein ein Stück zu Fuß zu gehen. „Wir waren vielleicht ein paar Meter von dem Treck weg, auf einmal krachte es und die Pferde fingen an zu reißen.“ Dann geht alles ganz schnell: „Innerhalb von Minuten war der Treck weg“ – mitsamt vier Kindern, die mit ihrer Mutter auf dem Wagen sitzen. „Alle sind die untergegangen. Die Frau, die hat die Kinder gehalten und geschrien.“ Der polnische Wagenführer versucht alles, um Menschen, Pferde und Wagen zu retten, aber vergeblich. Er geht mit unter. Dieses Bild, so erzählt Gertrud Zillikens, habe sie zeitlebens nicht vergessen können. „Das habe ich jeden Abend im Kopf wenn ich im Bett liege. Dann geht mit das alles durch den Kopf, nach all den Jahren. Ich kann das nicht vergessen. Das ist unmöglich!“

Die Haff-Überquerung hält für Gertrud aber noch weitere Schrecken bereit. In der Dunkelheit ist plötzlich ihre Mutter verschwunden. „Die Mama ist weg!“ Gertrud lässt ihre beiden Schwestern zurück, „und dann bin ich marschiert“. In jeden Wagen hinein ruft sie „Mama, bist Du da?“ Zu ihrem Glück wird sie von einer Militärstreife aufgehalten, die ihr sagt, dass sie in die falsche Richtung, nämlich zurück zum Festland laufe. „Ja, ich suche meine Mama.“ Die Streife hilft der verängstigten und überforderten Elfjährigen und findet Katharina Riediger tatsächlich. „Die wollte einfach nicht mehr, glaube ich“, äußert sich Gertrud Zillikens noch heute recht fassungslos. Statt sich über die erfolgreiche Zusammenführung zu freuen, macht sie ihrer Tochter sogar Vorwürfe: „Musst Du mir denn immer nachlaufen?“ Immerhin kann die nervlich zerrüttete und zu diesem Zeitpunkt wohl lebensmüde 35-Jährige zur Rückkehr zu ihren Kindern bewogen werden, wobei wieder Gertrud das Geschehen in die Hand nehmen muss. Aber auch der Rückweg gestaltet sich in der Dunkelheit nicht einfach. „Da habe ich immer wieder gerufen: ‚Hedwig, Angelika! Seid ihr hier?‘. Und dann habe ich sie doch gefunden, und wir sind vom Eis runter bis zur Nehrung.“

 

Es ist offenbar Schicksal und Aufgabe der kleinen Gertrud zugleich, in sehr jungen Jahren innerhalb der Familie übermäßig viel Verantwortung übernehmen zu müssen. „Ich musste immer laufen“, erinnert sie sich. „Ich war immer diejenige, die alles besorgen musste.“ Große Wahlmöglichkeiten werden ihr dabei nicht gelassen. „Ich musste. Meine Mutter sagte: ‚Du darfst nicht versagen. Du musst!‘ Das habe ich mir so zu Herzen genommen.“ Gertrud nimmt ihre Rolle an und füllt sie aus, so gut es ihr eben möglich ist. „Ich habe es eigentlich auch immer gern gemacht. Ich habe sie beschützt, kann man sagen.“

 

Dennoch ist sie damals – aber auch noch heute im hohen Alter – über das Verhalten der Mutter zunehmend irritiert. Es ist für die Kinder nicht verständlich oder gar nachvollziehbar, wozu das Schweigen der Mutter erheblich beiträgt. „Die hat mit uns über gar nichts gesprochen. Das war ja das Schlimme.“ Die Verweigerung von Kommunikation lässt schlimme Ängste entstehen: „Ich habe dann immer gesagt: ‚Mama, willst Du uns denn loswerden? Weil Du uns immer wieder im Stich lässt. Ich passe doch immer wieder auf. Ich hole Dich zurück, ich hole meine Geschwister zurück.‘ Da sagt sie bloß: ‚Du musst nicht immer alles so genau sehen.‘“