In Hochneukirch werden die Neuankömmlinge, die nun wissen, dass ihre Familie nie mehr vollständig sein wird, zunächst im Saal einer Gaststätte untergebracht. „Da wurden ein paar Strohsäcke reingeworfen, und dann lagen wir da mit ungefähr 20 Personen.“ Aber selbst diese dürftigen Umstände empfindet Gertrud nach der harten Zeit auf dem LKW als Wohltat: „Ach, auf einem Strohsack liegen war ja auch schon was Schönes!“
Bald darauf ergeht der Aufruf, dass Mütter mit ihren Kindern in die Schule gehen können, um dort Suppe zu kochen. Eines Tages kommt die Frau des örtlichen Metzgers und schenkt jedem der Flüchtlingskinder ein Stück Schinkenwurst. „Ach, das war ein Genuss! Wurst oder Obst, das kannten wir ja gar nicht mehr“, kann sich Gertrud Zillikens bis heute an das damit verbundene Glückgefühl erinnern.
Nach einiger Zeit erscheint dann ein Gemeindebeamter in der Sammelunterkunft und fährt mit Familie Riediger in das kleine, zu Hochneukirch gehörende Dorf Holz. Dort soll sie bei einem Bauern ein sehr kleines „Zimmerchen“ beziehen. Die Aufnahme fällt wenig freundlich aus: „Nein, die nehme ich nicht. Was sollen wir mit dem Packzeug?“, habe die Bäuerin geschimpft. „Nein, wie die Frau uns betitelt, das ist doch furchtbar“, habe sie in dem Moment gedacht, erzählt Gertrud Zillikens. Der Gemeindebeamte habe sich allerdings wenig beeindruckt gezeigt. „Das ist Pflicht. Sie müssen die nehmen. Die Leute bleiben hier!“
Ein einziges Bett habe in dem kleinen Raum gestanden, von dem die Bäuerin sofort Federbett, Kopfkissen und Bezüge entfernt habe. Als sie auch noch die Matratze habe herausnehmen wollen, sei wieder der Gemeindevertreter eingeschritten und habe sie davon abgehalten. Wie soll man bloß mit vier Personen in einem Bett schlafen, „das ist doch ein Unding“, habe sie damals gedacht. Aber auch die restliche Möblierung ist kaum für einen längeren Aufenthalt geeignet: ein kleines Kanonenöfchen mit einer Herdplatte, ein Stuhl, ein kleiner Tisch und ein schmaler Kleiderschrank sind das komplette Mobiliar. „Ja, und dann haben wir dann da gelebt.“ Dabei wäre es problemlos möglich gewesen, der vierköpfigen Familie mehr als diesen kleinen Raum zuzugestehen, denn – daran erinnert sich Gertrud Zillikens genau – in dem Bauernhaus hätten noch drei weitere Zimmer völlig ungenutzt leer gestanden.
Die beiden Kranken – Mutter Katharina und Schwester Hedwig – schlafen von nun an in dem einzigen Bett, während Gertrud und Angelika auf der Erde liegen müssen. Zum Zudecken dient das Wenige, was an geeigneter Kleidung vorhanden ist: kleine Kindermäntel, aus denen die Mädchen nach fast dreijähriger Flucht herausgewachsen sind, müssen dafür ausreichen. Dieser Zustand, so Gertrud Zillikens noch heute mit einiger Bitterkeit, habe recht lange angedauert, bis endlich eines Tages jemand von der Gemeindeverwaltung aufgetaucht sei und ihnen zumindest einige Decken gebracht habe.
Das Verhältnis zur Bäuerin bleibt ausgesprochen schlecht. „Die war schlimm, die gab noch nicht einmal einen halben Liter Milch für uns Kinder.“ Außerdem versucht die Frau offenbar, die Kinder zum Diebstahl zu verleiten – wahrscheinlich, um so eine Handhabe für eine Ausquartierung in die Hand zu bekommen. So stellt sie große Körbe mit frischen Äpfeln auf die Treppe. Doch die Riediger-Töchter sind gewarnt: „Kinder, vergreift euch ja nicht an deren Obst“, habe die Mutter immer wieder gewarnt. Dass sie damit Recht hat, belegt ein kleiner Zwischenfall: Eines Tages bittet Katharina Riediger ihre Tochter, ihre frisch gewaschene Kittelschürze von der Wäscheleine abzunehmen. „Sie konnte ja selbst nicht rausgehen, denn sie hatte ja keine Kleidung zum Wechseln.“ Weil die Wäscheleine auf der Obstwiese befestigt ist, wird Gertrud erneut mit auf den Weg gegeben, dort ja keine Äpfel zu pflücken. Fallobst dürfe sie allerdings nehmen. Als sie daraufhin vier Äpfel vom Boden aufhebt, erscheint gleich die Bäuerin auf der Bildfläche. „Was hast Du denn da, Gertrud“, habe sie scheinheilig gefragt. Als sie danach an der auf dem Arm liegenden Wäsche geschüttelt habe, seien natürlich auch die vier Äpfel zu Boden gefallen. „Die Äpfel sind für unsere Schweine“, habe die bösartige Bäuerin daraufhin gesagt, „die darfst Du nicht essen.“ Sie sei in dem Augenblick so geschockt gewesen, erinnert sich Gertrud Zillikens, dass sie nicht gewusst habe, ob sie weinen oder schimpfen sollte. Ohne Widerworte geht sie ohne Äpfel ins Zimmer zurück.