„Ich wäre gerne auch was geworden, aber es hat nicht hingehauen.“ - Bildung und Arbeit

„Durch meine Kinder habe ich später etwas dazugelernt“, antwortet Gertrud Zillikens auf die Frage, was für Auswirkungen denn ihr sehr unsteter Schulbesuch in den Jahren zwischen 1944 und 1948 gehabt hätte. Sie hat die Volksschule in Braunsberg nur bis ins 4. Schuljahr besuchen können, danach muss der Unterricht durch die Kriegsereignisse eingestellt werden. Während der Flucht und danach in den Lagern in Dänemark wird ebenfalls kaum Unterricht erteilt, und als Gertrud dann endlich Anfang 1948 in Hochneukirch eintrifft, ist sie dem schulpflichtigen Alter entwachsen. Außerdem ist sie hier zunächst die einzige der vierköpfigen Familie, die arbeiten und so den Lebensunterhalt bestreiten kann. „Ich konnte auch nicht mehr zur Schule gehen, ich musste Geld verdienen. Meine Mutter konnte doch nicht.“ Tatsächlich ist Katharina Riediger als Folge von Krieg und Flucht zu 100 Prozent arbeitsunfähig und auch Schwester Hedwig ist trotz ihres verbesserten Gesundheitszustands noch nicht in der Lage, aktiv zur Versorgung beizutragen.

Nachdem sie sich rund neun Monate lang in der Gastwirtsfamilie erholt hat, ist es für Gertrud daher an der Zeit, nach einer Arbeit Ausschau zu halten. Tatsächlich findet sie einen Arbeitsplatz in der ortsansässigen Baumwollspinnerei I.A. Lindgens Erben, wo das noch immer schmächtige Flüchtlingskind fortan im Akkord arbeitet. Der verantwortliche Betriebsleiter zeigt sich besorgt. „Nein, Fräulein Riediger, ich kann sie nicht da oben hinbringen. Das geht nicht, Sie sind viel zu schwach.“ Die Antwort ist klar und deutlich: „Doch, Herr Betriebsleiter, ich muss. Meine Mutter muss leben, und wir sind noch mit zwei weiteren Geschwistern. Wir haben kein Geld.“

Entgegen aller widrigen Umstände und körperlichen Schwäche legt sich Gertrud derart ins Zeug, dass ihr schon nach kurzer Zeit die Verantwortung für eine eigene Maschine übertragen wird. Die Arbeit wird dadurch keineswegs leichter, denn sie muss auch die schweren Garnrollen alleine transportieren. „Aber ich habe es geschafft“, berichtet sie noch heute stolz über diese harte Zeit, „ich musste doch meine Mutter auch am Leben halten.“ Und weiter: „Wie ich dann meine erste Löhnung bekam, war ich stolz.“

Der Preis allerdings ist hoch, denn Gertrud hat damals durchaus eigne Ambitionen. „Und ich wäre gerne auch was geworden, aber es hat nicht hingehauen“, beschreibt sie rückblickend die für sie zwar unglückliche, zugleich aber auch ausweglose Situation jener Jahre.

 

Ihr Status im Betrieb kann Gertrud aufgrund ihrer Arbeitsleistung zwar stabilisieren, ein anderes wesentliches Kriterium zur endgültigen Anerkennung zu diesem Zeitpunkt aber nicht erfüllen: Sie kann das ortsübliche niederrheinische Platt weder sprechen noch verstehen, was ihr von der alteingesessenen Belegschaft zum Vorwurf gemacht wird. „Du wurdest nicht anerkannt. Ich fragte: ‚Warum denn nicht? Ich arbeite genau wie Du.‘ ‚Ne, Du musst Platt sprechen. Hochdeutsch verstehen wir hier nicht.‘“ Erst als es ihr im Laufe der Jahre gelingt, die Einheimischen zunächst zu verstehen und dann auch nach und nach ihren Dialekt zu sprechen, gelingt ihr die endgültige Integration am Arbeitsplatz.

Die Holzer Ortsbevölkerung hingegen, so betont Gertrud Zillikens heute, habe die Sprachbarriere überhaupt nicht erwähnt oder gar gestört. Stattdessen hätten die Bewohner versucht, mit den Flüchtlingen im Dorf Hochdeutsch zu sprechen – „so gut sie eben konnten; die meisten fielen schnell wieder ins Platt rein“.

 

Die Beschäftigung in der Spinnerei bringt nach Jahren endlich die Erlösung: 1955 sorgt Gertruds Betriebsleiter dafür, dass Familie Riediger endlich das viel zu kleine Zimmerchen auf dem Bauernhof verlassen und in eine nagelneue Betriebswohnung in der Weidenstraße ziehen kann. Bis dahin hatten Gertrud und Angelika – trotz schwerer Arbeit in der Spinnerei – weiterhin auf dem Boden schlafen müssen. Nun beginnt in dieser Hinsicht ein völlig neues Leben: „Ein schönes Schlafzimmer, eine große Küche, ein Kinderzimmer und ein Bad. Das waren wir ja gar nicht gewohnt. Da hatten wir endlich ein menschliches Leben. Da ging das wieder.“