„Da kamen all diese Dinge aus der Vergangenheit, die sie erleben musste, immer wieder hoch.“ - Der Sohn

Harald Zillikens wird im Juni 1959 geboren und verbringt eine schöne und beschauliche Kindheit in Hochneukirch. „Meine Eltern haben immer sehr aufgepasst, dass ‚an den Jung nichts drankommt‘“, erzählt er so amüsiert wie dankbar. Als Kind habe deren starkes Bestreben, ihm eine wohlbehütete Umgebung zu schaffen, natürlich nicht reflektiert. Erst später sei ihm daher bewusst geworden, warum seine Eltern – im Besonderen seine Mutter – einen so großen Wert auf Schutz und Sicherheit gelegt hätten. „Das hatte viel mit der Lebensgeschichte meiner Mutter zu tun“, ist sich Harald Zillikens heute sicher, „was die Flucht angeht, was insbesondere auch die Lebensverhältnisse später hier vor Ort angeht.“ Natürlich, so ergänzt er, habe es auch eine Rolle gespielt, dass das erstgeborene Kind des Ehepaars Zillikens kurz nach der Geburt gestorben sei. Fakt jedenfalls sei: „Meine Mutter hat mich fast bis zu meiner Bundeswehrzeit behütet und sehr auf mich aufgepasst.“ Seine Eltern hätten immer alles getan, um ihn in praktisch jeder Lebenslage bestmöglich zu unterstützen – „damit es mir eben besser geht“.

Dieser „Lebensmut“ seiner Eltern und speziell seiner Mutter, so Harald Zillikens, habe ihn trotz oder gerade wegen deren früherer Erlebnisse immer sehr fasziniert. Als Beispiel hierfür nennt er seinen Wunsch, das Gymnasium zu besuchen, eine für seine Eltern völlig fremde Welt. Seine Mutter habe wegen der langen Jahre auf der Flucht keinen Schulabschluss und deshalb Angst gehabt, ob sie ihren Sohn bei einem Besuch des Gymnasiums überhaupt hinreichend unterstützen könne. Solche Sorgen vor ihr unbekannten Situationen hätte insbesondere das Verhalten der Mutter stets stark bestimmt. „Sie hat sich immer intensive Sorgen gemacht“, was der Sohn auf die schweren Erfahrungen der Jahre zwischen 1945 und 1955 zurückführt. „Da kamen all diese Dinge aus der Vergangenheit, die sie erleben musste, immer wieder hoch und hat das dann in diesen Kontext gebracht.“

 

Seine erste Konfrontation mit der Vergangenheit habe er selbst bei seiner Erstkommunion erlebt, erinnert sich Harald Zillikens. Die Erwachsenen hätten untereinander „Dinge erzählt“. Das habe erstmals seine Aufmerksamkeit und sein Interesse geweckt: „Was ist denn da gewesen?“ Das habe sich auch auf die beiden Schwestern seiner Mutter, zu denen ein gutes Verhältnis bestanden habe, bezogen. „Dann wurde nach und nach ein Bild daraus.“ Wenn das zunächst auch eher „spärliche“ Konturen gewonnen habe, sei daraus dann nach und nach sein generelles Interesse an Geschichte erwachsen.

 

Das Verhältnis zur ostpreußischen Großmutter sei allerdings nie eng oder gar herzlich gewesen, erinnert sich Enkel Harald. Sie sei ein „sehr harscher und abweisender Typ“ gewesen, der Kinder nicht gerade angezogen habe. „Sie war verbittert und hart.“ Der ostpreußische Dialekt der Oma habe ihn hingegen immer fasziniert. Den habe er immer schön gefunden, wobei Harald Zillikens bedauert, dass das „alles verloren“ gehe.

 

Er sei sich seiner Rolle als Kind eines Flüchtlings in seiner Kindheit recht schnell bewusst geworden, erzählt Harald Zillikens, ohne dass ihm in Hochneukirch irgendwelche Vorurteile entgegengebracht oder gar Nachteile daraus erwachsen seien. Sein aktiver und selbstverständlicher Umgang mit diesem Status wird zudem dadurch gefördert, dass auch die Mutter eines engen Schulfreundes aus Westpreußen geflohen ist. „Da haben wir uns dann häufiger drüber ausgetauscht und erzählt.“ Auch mit dessen Mutter kann der damals etwa Zwölfjährige über das Thema sprechen, ebenso mit der netten Oma des Schulfreundes, die sie nach Schulschluss manchmal besuchen und die ihnen – allerdings immer erst nach Aufforderung – Geschichten aus Westpreußen erzählt.

 

Seine Mutter selbst habe zu ihrer persönlichen Vergangenheit durchaus einiges, „aber nie alles“ erzählt. Daher bleibt es für Harald Zillikens lange unerklärlich, warum seine Mutter ein sehr schwieriges Verhältnis zu Schiffen und Wasser hat. „Meine Mutter war“, so berichtet er aus seiner Kindheit, „nie bereit auf ein Schiff zugehen.“ Bei Familienausflügen an den Rursee in der Eifel in den 1960er und 1970er Jahren sei bei ihr immer wieder der für ihn als Kind völlig unverständliche „totale Horror“ vor dem Betreten eines Schiffes aufgebrochen. Nachdem er dann später die ganze Fluchtgeschichte mit der dramatischen Überfahrt nach Dänemark erfahren habe, sei natürlich alles klar geworden.

 

Die Erlebnisse seines Vaters, der während des Krieges zeitweise in einem KLV-Lager untergebracht war, seien die weitaus harmloseren gewesen, über die auch gesprochen worden sei. Das habe ihn dann aber noch neugieriger gemacht, schildert Harald Zillikens den Prozess der allmählichen Annäherung an die individuellen Kriegsschicksale beider Elternteile. „Wie war das denn wirklich?“

Dieses wachsende Interesse führt 2005 schließlich dazu, dass er sich mit Eltern, Frau und den beiden – für eine solche Unternehmung eigentlich noch zu jungen – Töchtern auf die gemeinsame Reise nach Ostpreußen begibt. Unterkunft findet die sechsköpfige Reisegruppe in einem kleinen Hotel in Braunsberg. „Das war ein Familienausflug in die Vergangenheit“, schildert er die Erlebnisse. Man sei ganz bewusst jene Wege gegangen, über die seine Mutter zuvor immer erzählt habe – „von Zuhause zur Kirche, zur Schule“. Allerdings habe man nicht den Fluchtweg aus dem Kessel von Heiligenbeil über das Haff auf die Nehrung gehen können, weil dieses Gebiet nicht zu Polen, sondern zu Russland gehöre. „Das war schon emotional, weil ich den Bezug meiner Mutter dahin hatte. Das war eine einmalige Situation, die ich auch bewusst so erleben wollte.“

Aber auch seine Mutter habe ungeahnte Energien entwickelt. Obwohl sie zu dieser Zeit gesundheitlich angeschlagen gewesen sei und während des einwöchigen Aufenthalts in Braunsberg große Hitze geherrscht habe, sei sie „rumgesprungen, als wäre sie 18“. Während alle anderen unter der Hitze gelitten hätten, habe Gertrud Zillikens immer neue Wege vorgeschlagen, die man unbedingt noch gehen müsse. „Es hätten auch drei Meter Schnee liegen können, das wäre alles egal gewesen“, umschreibt Sohn Harald die ungeahnten Energien, die seine Mutter angesichts der hautnahen Konfrontation mit ihrer alten Heimat entwickelt habe.

Während die Eltern nach einer Woche ins Rheinland zurückfahren, begibt sich Harald Zillikens mit Frau und Töchtern noch auf eine weitere historisch inspirierte Exkursion: Masuren mit der „Wolfsschanze“, Berlin mit dem Reichstag und anderen geschichtsträchtigen Orten. Das sei für seine kleinen Töchter vielleicht „etwas schwierig“ gewesen, gesteht der geschichtsinteressierte Vater ein, aber sie würden manchmal heute noch von dieser sehr persönlichen Reise in die Vergangenheit erzählen.

 

Auf seine „Identität“ hin angesprochen, sieht sich Harald Zillikens von beiden Elternteilen geprägt: die „Leichtigkeit des Niederrheiners, der mal gern feiert und fröhlich ist, aber auch die Ernsthaftigkeit des Preußen“. Dabei hätte ihn besonders die Einstellung seiner Mutter zur Arbeit immer fasziniert und damit natürlich auch das, was sie geleistet habe. „Die ist morgens um drei Uhr aufgestanden und ist zu einer Putzstelle gegangen, war aber um ½ 7 wieder hier und hat ihre Kinder versorgt. Dann ist sie wieder arbeiten gegangen, und wenn wir aus der Schule kamen, stand das Essen auf dem Tisch. Das alles mit einer unglaublich hohen Disziplin und der Zurückstellung jedweder eigner Interessen.“ – Diese Beschreibung erinnert an die Rolle, die bereits der jungen Gertrud im Rahmen der Fluchtereignisse aufgebürdet worden war.

Außerdem habe gerade seine Mutter ihm einen hohen Grad an Optimismus vermittelt. „Wir schaffen das schon“ sei stets ihre Devise gewesen - auch und gerade in schwierigen Situationen. Das führt Harald Zillikens nicht zuletzt auf deren dramatischen Erlebnisse während der Flucht zurück. „Da lässt Dich die eigene Mutter zurück!“ Ihn habe zeitlebens fasziniert, dass seine Mutter in bedrohlichen Situationen immer genau anders gehandelt habe. Pessimismus oder Skepsis suche man bei ihr vergeblich. „Für meine Mutter ist jeder Mensch erst einmal gut. Und jedem muss geholfen werden“

 

Heute ist Harald Zillikens Bürgermeister der Gemeinde Jüchen und in dieser Funktion fast tagtäglich mit dem aktuell starken Zuzug von Flüchtlingen und den damit verknüpften Problemen konfrontiert. Natürlich spiele für ihn dabei auch seine persönliche Vergangenheit eine Rolle, erklärt er. Daraus hat er für sich auch den Schluss gezogen, Dinge nie vorschnell pauschal zu beurteilen, sondern vor einer Entscheidung möglichst den konkreten Einzelfall zu betrachten.

Eins steht für ihn aufgrund vielfältiger eigener Erfahrungen völlig außer Frage: „Wir sind verpflichtet, diesen Leuten zu helfen.“ Natürlich seien damit einige Bedingungen verknüpft, vor allem jene, dass die Neuankömmlinge das deutsche Rechtssystem und die in ihm garantierten Grundrechte akzeptieren und befolgen müssten.

Sorge und Angst bereiten Harald Zillikens radikale Äußerungen, die nicht nur an Theken von Gastwirtschaften, sondern selbst von demokratisch gewählten Kreistagsabgeordneten zu vernehmen seien und die Flüchtlingen gegenüber eine völlige Ablehnung und eine latente Gewaltbereitschaft zum Ausdruck bringen würden. Das sei etwas, so schlägt Harald Zillikens den Bogen von kommunaler Verantwortung zur familiären Vergangenheit, was seiner Mutter in Teilen damals ja auch entgegengeschlagen sei. „Was sollen wir mit den Polacken? Ihr nehmt uns das weg, was wir haben.“ Dabei, so betont er, sei es heute noch weitaus „krasser, denn wir haben ja ganz viel“. „Wir leben in einem unglaublichen Luxus und vier Fünftel der Weltbevölkerung wären froh, wenn sie unsere Probleme hätten.“ Während sich viele Menschen hier Gedanken darüber machen würden, wie sie auf ihren Autos nach der Durchfahrt durch eine hochmoderne Waschstraße Kalkflecken entfernen könnten, würden ungezählte Menschen sich mit dem Problem konfrontiert sehen, überhaupt Trinkwasser zu bekommen.