„Wir waren immer ein bisschen zurückgestoßen“ – In Jüchen

In jedem der beiden Klassenräume, so erinnert sich Charlotte Leibrandt, seien rund 20 Personen untergebracht gewesen. Der im Obergeschoss der Schule wohnende Rektor bemerkt, dass zwei der Tomaschewski-Kinder ja bereits fast erwachsen sind. Er wendet sich direkt an die Mutter: „Wenn Ihre Kinder Arbeit wollen, gehen Sie heute da und da hin.“ Solche Tipps sind wichtig, denn Charlotte beispielsweise ist aufgrund ihres Fluchtschicksals ohne jede Ausbildung. So wird sie Näherin beim Jüchener Textilunternehmen Busch, wo sie bis zu ihrer Heirat im Jahr 1952 tätig bleibt.

 

Schon in Dänemark hat Charlotte mit Verdacht auf Typhus sechs Wochen im Krankenhaus zubringen müssen. Sie sei zwar geheilt worden, habe aber in Jüchen und später in Korschenbroich noch einige Jahre zu regelmäßigen Nachuntersuchungen das Krankenhaus aufsuchen müssen. Das alles sei Folge der während der Flucht zu ertragenden Lebensbedingungen gewesen, die durch Kälte und permanenten Hunger geprägt worden seien.

 

Die Aufnahme im Ort sei „nicht so besonders“ gewesen. „Das war schon schwierig. Wir waren evangelisch, und Jüchen war ein katholischer Ort. Wir waren immer ein bisschen zurückgestoßen.“ Es habe auch „gute“, nette Menschen gegeben. „Aber im Allgemeinen war katholisch für sich und evangelisch für sich.“ Man sei wegen der Konfession als „Blauköppe“ beschimpft worden. Bereits am frühen Morgen, wenn sie das provisorische Lager in der Jüchener Schule verlassen habe, um zur Arbeit zu gehen, sei sie von Kindern und anderen Entgegenkommenden oft in dieser Weise verspottet worden, erzählt Charlotte Leibrandt.

Neben der Ablehnung erschwert die Art der Unterbringung das Leben. Bis zum März 1951, also weitere zweieinhalb Jahre müssen Charlotte und ihre Familie mit rund 20 Personen in einem Jüchener Klassenzimmer leben. Sie selbst entflieht der Enge allein dadurch, dass sie morgens um 6:30 Uhr zur Arbeit geht. Das können die älteren Bewohner und die kleinen Kinder jedoch nicht, so dass in einem Raum tagtäglich sehr unterschiedliche Interessen zusammenprallen. „Das gab schon manchmal Reibereien.“ Ansonsten muss man sich pragmatisch geben. „Wenn eine Decke vorgehangen wurde, dann waren sie für sich alleine“, schildert Charlotte Leibrandt den Bau improvisierter „Hütten“ im Klassenraum und die so unternommenen zaghaften Versuche, etwas Privatsphäre zu schaffen.

Als jemand gesucht wird, der für die 40 in der Schule untergebrachten Flüchtlinge kochen kann, meldet sich Mutter Tomaschewski. Sie wird für diese Arbeit ausgewählt und bereitet künftig in der Waschküche das Essen zu.

 

Eines Tages sei Bürgermeister König zu ihrer Mutter gekommen, erzählt Charlotte Leibrandt, und habe sie gefragt, ob sie eine Wohnung suche. Als diese das natürlich bejaht habe, sei sie zu einem Hausbesitzer geschickt worden, bei dem eine Wohnung frei geworden sei. Dessen erste Frage gilt der Anzahl und dem Alter der Kinder. Weil die schon vergleichsweise alt und bis auf die jüngste Tochter bereits berufstätig sind, stellt das offenbar kein Hindernis dar. Das türmt sich dann allerdings unüberbrückbar auf, als der Vermieter als nächstes nach der Konfession fragt. „Als wir sagten: ‚Evangelisch‘, da haben die uns schon nicht genommen, da blieben wir weiter im Lager.“ So dauert es bis 1951, bis Familie Tomaschewski die lagermäßige Notunterkunft im überfüllten Jüchener Klassenraum verlassen und in zwei Zimmer in einem Haus umziehen kann. Hier wohnt Charlotte noch ein Jahr.