„Aber was sollten wir machen, wir mussten uns fügen.“ - Der Bruder

Dietmar Kusch wird zwei Tage nach Beginn des Zweiten Weltkriegs am 3. September 1939 in Langeböse geboren, hat aber nur wenig direkte Erinnerungen an seine frühe Kindheit. An einzelne Stellen im Dorf kann er sich allerdings noch gut zurückentsinnen. Das bemerkt er bei seinen beiden Besuchen in Langeböse nach 1989. „Beim ersten Mal, wie ich da reinkam, da wusste ich haargenau, die Straße geht dahin und die dorthin. Ich wusste, wo das Gut stand, ich wusste, wo unser Anwesen war.“ Die Örtlichkeiten haben sich damals also tief in das kindliche Gedächtnis eingegraben.

Dietmar ist acht Jahre alt, als die Familie nach Garzweiler kommt. Am Anfang, so entsinnt er sich, sei es „etwas schwer“ gewesen zwischen den beiden Konfessionen, was insbesondere auch in der Schule zum Ausdruck gekommen sei. „Da hieß es dann: ‚Blauköpp!‘, ‚Du Pollack!‘“ Weil er aber ein Typ gewesen sei, der für eine derartige Behandlung „nicht groß was für gegeben“ habe, lässt er die Beschimpfungen – zumindest äußerlich - weitgehend an sich abtropfen. Dabei hilft ihm nicht nur der familiäre Rückhalt, sondern es gesellt sich bald ein anderer wesentlicher Faktor hinzu, der einer erfolgreichen Integration erheblich Vorschub leistet: Dietmar ist begeisterter Fußballspieler und tritt früh in den Garzweiler Fußballverein ein, wo er die negativen Begleiterscheinungen des Flüchtlingsstutus‘ angesichts seiner Spielstärke kaum mehr zu spüren bekommt. „Da war das vorbei. Da hat keiner mehr gesagt ‚Du Pollack!‘“ Natürlich, so räumt Dietmar Kusch rückblickend ein, habe ihn die häufige Diskriminierung und Zurücksetzung außerhalb des Sportplatzes geärgert. „Aber was sollten wir machen, wir mussten uns fügen.“

Auch in der Schule hilft ihm sein sportliches Können, denn auch dort messen die katholischen Einheimischen gegen die evangelischen Flüchtlingsjungen ihre Kräfte. Die vier guten evangelischen Fußballer hätten die zahlenmäßig überlegenen Katholiken immer besiegt. Als dann 1954 zu Beginn von Dietmars letztem Schuljahr in Garzweiler die kleine evangelische Schule eröffnet wird, erhalten die Fußballer moralische Unterstützung durch ihren Lehrer Schwengler. „Der sah das gerne, wenn wir die Katholischen abgezockt haben.“ Durch dessen gemeinsame Initiative mit Peter Giesen, dem Leiter der katholischen Volksschule, finden solche „konfessionellen“ Spiele nun häufiger statt, wodurch etwaige Konflikte zwischen Einheimischen und Zugezogenen auf sportliche Art und Weise ausgetragen werden. Das gilt wohl auch für den örtlichen Turnverein, dem sich der sportbegeisterte Dietmar ebenfalls schnell anschließt.

Dennoch bleiben zunächst Benachteiligungen durch Flucht und Vertreibung an der Tagesordnung. So notiert Lehrer Schwengler anlässlich der Schulentlassung von Dietmar und seiner Cousine Marlene in der Schulchronik, dass nahezu sämtliche Schulkinder „noch unter den schweren Folgen der Nachkriegsjahre und der Flucht“ zu leiden hätten. Von den sieben Ostern 1955 Entlassenen seien Dietmar Kusch und Marlene Eggert aus Langeböse erst mit acht Jahren eingeschult worden, „weil sie bis 1946 in der von Polen und Russen besetzten Heimat verbleiben mussten, aber keine Schule besuchen konnten, das folgende Jahr auf der Flucht verbrachten und von Lager zu Lager geschleust wurden“.

Trotz aller Anlaufschwierigkeiten als Vertriebener sieht sich Dietmar Kusch allerdings nicht nachhaltig benachteiligt. „Das kann ich eigentlich nicht sagen“, lautet sein versöhnliches Urteil. Auch die Lehrer hätten sich während seiner sieben Schuljahre in der katholischen Schule weitgehend „neutral“ verhalten.

Natürlich, so erzählt er weiter, mache man sich Gedanken darüber, wo denn nun die Heimat sei. In Langeböse sei er geboren worden und die ersten sieben Jahre aufgewachsen. Deshalb sei die Rückkehr für ihn nicht ganz leicht gewesen. „Wenn man das dann so sieht, ein bisschen nah geht das einem schon. So ganz schmerzlos geht das nicht vorüber.“ Im Gegensatz zu seiner älteren Schwester Astrid sieht Dietmar Kusch seine Heimat heute allerdings eindeutig in Garzweiler. „In jedem Fall!“ Immerhin seien ja auch die weitaus meisten seiner späteren Freunde alteingesessene Einwohner des Ortes.