Die Wohnverhältnisse in der Garzweiler Schule sind alles andere als einladend. Hygiene steht in den für eine solche Nutzung nicht vorgesehenen Räumlichkeiten nicht gerade an erster Stelle. Toiletten seien sicherlich da gewesen, meint Hannelore Beulen, ohne sich allerdings genauer an die Umstände erinnern zu können – vermutlich ein Akt unbewusster Verdrängung unschöner Zustände. Essen - „irgendwas“ - sei täglich über die Gemeinde zur Verfügung gestellt worden.
Unter den gegebenen Umständen und angesichts der Herausforderungen der damaligen Zeit, so fasst sie die Erlebnisse der ersten Zeit in Garzweiler trotz aller Beschwernisse zusammen, könne man über das Verhalten des Großteils der Bevölkerung eigentlich nichts Negatives sagen. Im Gegensatz zum strikt ablehnenden Verhalten der Jackerather Bauernfamilie habe es immer wieder auch Menschen gegeben, „die sich unheimlich eingesetzt“ hätten. Hierzu trifft sie eine – wohl nur auf den ersten Blick überraschende – Feststellung: „Wir haben hinterher überlegt, wer hat sich am meisten um uns gekümmert und später dann festgestellt, die waren ärmer als wir. Die haben uns alles gebracht, was sie übrig hatten.“
Erich Bandemer engagiert sich früh im örtlichen Flüchtlingsausschuss, was sich für seine Familie, so erinnert es zumindest Tochter Hannelore, eher negativ auswirkt. Der Ausschuss ist nämlich auch an der Verteilung der knappen Güter an die Vertriebenen und Flüchtlinge beteiligt. „Da gab es mal warme Decken oder Schuhe. Und was soll ich Ihnen sagen, wir haben nie was gekriegt. Wenn meine Mutter dann zu meinem Vater sagte: ‚Hast Du nicht einmal eine Decke mitgebracht?‘, sagte der: ‚Nein. Da kam so ein armes Mütterchen, die ist ärmer dran als wir.‘“ Ihr Vater habe alles verteilt und weggegeben, ohne die eigene Familie zu berücksichtigen. „Da hat meine Mutter gesagt: ‚Kannst Du nicht austreten aus diesem Verein? Ich möchte auch mal was kriegen.‘“
Wichtiger ist es aber, dass die Bandemers endlich den Klassenraum verlassen und eigene Räume in der Garzweiler Mausgasse beziehen können, die die Bezeichnung „Wohnung“ jedoch nur sehr eingeschränkt verdienen. Es handelt sich um eine Art Stall, in der zuvor bereits eine Flüchtlingsfamilie gewohnt hat - Familie Müller, die uns in Person von Elisabeth Schütte hier ebenfalls ausführlich begegnet. Als die eine bessere Unterkunft findet und umzieht, sieht Erich Bandemer die Gelegenheit gekommen. „Dann hat mein Vater das erfahren, und dann sind wir in diesen Stall gezogen.“ Der Boden besteht aus Ziegelsteinen, Türen sucht man vergebens – „aber es waren drei Räume und wir waren für uns“.
Die Räume sind das eine, deren Einrichtung hingegen etwas völlig anderes. „Wir kamen da rein und hatten nichts“, erzählt Hannelore Beulen. „Wir mussten uns auf Ziegelsteine setzen.“ Auch hier helfen wieder Menschen, von denen man es wohl am wenigsten erwartet hätte: „Das waren arme Leute, die damals unsere Nachbarn waren, die Ärmsten der Armen. Da brachte einer einen Stuhl, der andere einen Tisch. Dann kam mal jemand mit einem Eisenbett-Gestell. So kamen diese Sachen zusammen.“ Aber wie fast immer, hat auch hier die Medaille zwei Seiten: „Es wohnten auch Leute da, die alles hatten, von denen sie aber kein bisschen was kriegten. Kein Stück Brot, nichts.“
Mit dem Gewinn von Privatsphäre, so Hannelore Beulen, habe die Normalität langsam wieder Einzug in das Familienleben halten können, wenn das Niveau der Lebensbedingungen in den „Hungerjahren“ zunächst auch auf bedenklich niedrigem Stand bleibt. „Ich weiß noch, dass meine Mutter mit Wasser Kartoffeln gebraten hat.“ Überall in der Umgebung habe es nach Öl und Fett gerochen, was die stets hungrige und unterernährte Hannelore besonders dann zutiefst betrübt, wenn die einheimischen Freundinnen zum Reibekuchen-Essen ins Haus gerufen werden. „Und dann sagte meine Mutter: ‚Und ich habe Bratkartoffeln gemacht. Und wenn sie auch bloß mit Wasser gemacht sind, sie schmecken.“