„Da kommen die Russen! Da sind die Panzer!“ - Besetzung

Die Kinder laufen zur provisorischen Unterkunft und warnen die Eltern: „Da kommen die Russen! Da sind die Panzer!“, die kurz darauf an den Zollhäusern eintreffen. Die Soldaten springen ab und dringen in die beiden Gebäude ein. Zeitgleich, so Hannelore Beulen, habe man in den umliegenden Wäldern zahlreiche Schießereien gehört. „Die haben deutsche Soldaten erschossen.“ Deren Leichen werden – zum großen Schrecken der Kinder - später entdeckt.

In den Häusern entfernen die Soldaten zunächst sämtliche Schlüssel aus den Türen. „Wir durften nicht abschließen. Und dann ging das die ganze Nacht rein und raus, und die holten sich die Frauen. Und wir Kinder wussten natürlich nicht, was los war.“ Erna Bandemer macht sich die Kinderliebe vieler Soldaten zunutze: „Die Russen, die mochten Kinder, und wenn Kinder weinten, dann gingen die manchmal weiter. Meine Mutter hat immer geguckt, dass meine Schwester unter ihrem Rock war, weil die ja schon zwei Jahre älter war, und mein Bruder und ich saßen bei ihr und bei meinem Vater auf dem Schoß.“ Das Verhalten der sonst so besorgten Mutter dürfte die Kinder irritiert haben, zeigt aber die erhoffte Wirkung. „Wir wurden von ihr gekniffen, damit wir weinen sollten.“ Tatsächlich bleibe Erna Bandemer während der Tage und Nächte in den Zollhäusern unbelästigt.

 

Nachdem die Einheiten Roten Armee endlich weitergezogen sind, werden die Fluchtwagen erneut bepackt, und die Groß Boschpoler kehren in den Ort zurück. Der eigentlich recht kurze Rückweg zieht sich – zumindest in der Erinnerung der damals stark verängstigten Hannelore - recht lang hin und ist mit weiteren traumatisierenden Handlungen der Soldaten verbunden. „Und dann kamen immer wieder Russen vorbei und versuchten, uns zu erschießen.“

Was dann geschieht, übertrifft in seinem Schrecken die bisherigen schlimmen Erlebnisse der Zehnjährigen nochmals bei Weitem. Auf dem Rückweg ins Dorf kommt die Gruppe an einem freistehenden und verlassenen Haus vorbei. In diesem Augenblick nähert sich ein betrunkener russischer Soldat auf einem Pferd. „Der hat uns dann in dieses Haus getrieben.“ Das Innere des Gebäudes wirkt auf Hannelore ohnehin schon gespenstisch. Ein Raum sei mit großen Spiegeln ausgestattet gewesen und auf kleinen Schränkchen hätten lange Scheren gelegen – vielleicht handelte es sich um einen Friseur-Salon. „Jetzt kommt der Russe und sagt: ‚Die Männer in einen Raum, die Kinder in einen Raum und auch die Frauen. Wir würden alle erschossen werden.“ Verständlich machen kann sich der Betrunkene dadurch, dass sich unter den Rückkehrern eine Frau befindet, die Russisch spricht und daher übersetzen kann. „Und dann kam der mit der Pistole und ging von einem zum anderen. Und das vergisst man auch nicht. Und dann ging das große Beten los; jeder auf seine Art.“

Die Todesangst findet durch die Ankunft weiterer Rotarmisten glücklicherweise ihr abruptes Ende. „Da geht die Türe auf, und es kommen drei Offiziere herein. Die packen sich diesen besoffenen Russen und schmeißen ihn raus. Und das war unsere Rettung“, ist sich Hannelore Beulen noch heute sicher. Der Schrecken ist aber längst nicht ausgestanden. Nun stellen sich die drei Offiziere mit den großen Scheren in den Händen auf, klappen diese auf und zu und betrachten die verängstigte Gruppe. „Da hörte ich – auch das vergisst man nicht -, wie einer von den Erwachsenen sagte: ‚Die schneiden uns jetzt jedes Glied einzeln ab.‘ Stellen Sie sich das mal vor, wenn Sie das als Zehnjährige hören.“

Das Befürchtete wird zwar nicht zur Realität, aber was folgt, ist schlimm genug: „Was sie getan haben? Sie haben die Frauen vergewaltigt und haben uns dann nach einer Zeit wieder gehen lassen.“ Das gilt auch für die Männer, die zwar in einem eigenen Raum eingesperrt sind, denen man sonst aber nichts antut.