„Der arme Jürgen, der hat heute Geburtstag und kriegt auch keine Geschenke.“ - Flucht

Auf Nachfrage der Kinder erklären Ernst und Erna Bandemer ihnen die Notwendigkeit zur Flucht. Man habe Angst, „dass der Russe reinkommt“, habe es immer wieder geheißen. Das hört sich in ihren Ohren aber stets sehr allgemein und weit entfernt an, so dass die zwölfjährige Elvira und die zehnjährige Hannelore zunächst nicht realisieren, dass auch sie unmittelbar von der Invasion betroffen sein werden. „Da dachten wir aber noch nicht an unsere Flucht“, fasst Hannelore Beulen ihre damalige kindliche Sichtweise zusammen. Es habe dann jedoch nur noch wenige Wochen gedauert, „bis es auf uns zukam“.

„1945, am 13. März, sind wir geflüchtet.“ Dieser Tag und seine Ereignisse stehen der heute 83-Jährigen noch immer in aller erschreckenden Deutlichkeit vor Augen. Die Bandemers verlassen mit weiteren Bewohnern Groß Boschpol und ziehen in die das Dorf umgebenden Hügel, wo zwei leere Zollhäuser stehen. Hier lassen sie sich nieder, um – wie man hofft – in sicherem Abstand den Durchmarsch der Roten Armee abzuwarten und anschließend zurückzukehren.

An das genaue Datum der Flucht kann sich Hannelore Beulen aus gutem Grund genau erinnern: „Am 13. März 1945 wurde mein Bruder vier Jahre alt.“ Normalerweise werden in der Familie die Kindergeburtstage immer „groß“ gefeiert. Das sieht nun allerdings völlig anders aus. Noch heute dominiert der von Pferden gezogene Wagen die Erinnerungen an diesen Tag: „Mein Bruder sitzt da drauf und hat Geburtstag! Da habe ich gedacht: ‚Der arme Jürgen, der hat heute Geburtstag und kriegt auch keine Geschenke.“ Daher könne sie das Datum der Flucht nie vergessen.

 

An die weiteren Ereignisse hat Hannelore Beulen nur noch vage Erinnerungen. So kann sie sich – durch die damaligen Erlebnissen sicherlich auch ein Stück weit traumatisiert – auch nicht rückbesinnen, wie lange sich die Gruppe aus Groß Boschpol in den beiden Zollhäusern aufgehalten hat. Mal meint sie, es seinen vielleicht zwei bis rund drei Wochen gewesen, mal spricht sie nur von wenigen Tagen. Kein Wunder, dass das kindliche Erinnerungsvermögen angesichts der angespannten Stimmung in der Fluchtgruppe und den existentiell bedrohlichen Ereignisse alles andere als präzise ist. Es kann gut sein, dass sich der kleinen Hannelore drei endlos erscheinende Tage des angespannten Wartens und voll von schrecklichen Erlebnissen damals als drei „gefühlte“ Wochen ins Gedächtnis einbrannten.

An die Zahl der in den beiden Häusern Untergekommenen kann sie sich hingegen gut erinnern und schätzt sie auf rund 20 Personen. Man habe sich nicht richtig eingerichtet, sondern nur das Allernötigste – beispielsweise das Bettzeug – ausgepackt. So schläft man spartanisch und „wie Heringe“ auf Strohsäcken, die auf dem nackten Boden liegen. „Es war schon so, dass wir wussten, dass das nicht für ewig war.“ Eines Tages, an diese Szene erinnert sich Hannelore Beulen genau, habe sie mit Spielkameraden wieder einmal „die Berge“ erklommen. Beim Blick ins Groß-Boschpoler Tal sehen die Kinder russische Panzer anrollen. Der lange gefürchtete Augenblick ist gekommen!