„Da waren die Leute schon aufgeschlossener, und da war das schon gar kein Thema mehr.“ – Der Bruder

Gerd Bandemer wird am 29. Juni 1948 in Garzweiler geboren. Kurz nach seiner Geburt zieht die Familie nach Jüchen, wo das Nesthäkchen eine unbeschwerte Kindheit erlebt. Er hat viele gleichaltrige Spielkameraden – sowohl einheimische als auch Flüchtlingskinder. Der Spielplatz ist die Straße, auf der Fußball gespielt und im Winter auf einer improvisierten Eisbahn Schlittschuh gelaufen wird. Alles in allem eine Kinderidylle, in der er sich, so Gerd Bandemer rückblickend, überaus wohl gefühlt habe.

 

Allerdings, so fügt er einschränkend hinzu, habe er schon bemerkt, dass er als Kind von Flüchtlingen – wenn auch erst im Rheinland geboren – „nicht so doll angesehen“ gewesen sei. Große Bedeutung habe dabei die Religion gehabt. Die meisten der Vertriebenen seien evangelisch gewesen, was in Jüchen stark polarisiert habe, wo man doch sehr konservativ und den „abtrünnigen Christen“ gegenüber „sehr ablehnend“ gewesen sei. Hierzu tragen auch die Repräsentanten der katholischen Kirche im Ort ihren Teil bei. „Das bekam man schon zu spüren“, erinnert sich Gerd Bandemer, der damals auch als „Blaukopp“ beschimpft wird.

Die Trennung und die Konflikte zwischen den beiden christlichen Konfessionen wird durch die Existenz getrennter Schulen zusätzlich befeuert. „Wir hatten ja eine evangelische Schule, evangelische Kirche und katholische Schule, katholische Kirche. Mich hat damals nur gewundert, dass der Bahnhof für alle galt“, bringt er die oft unversöhnliche Konfliktlage auf den Punkt. Das alles habe insbesondere in der damaligen Gemeinde Jüchen erheblich dazu beigetragen, dass die Einstellung der Einheimischen gegenüber den Zugezogenen „nicht gerade positiv“ gewesen sei.

Es ist und bleibt auch für Gerd Bandemer schwer, Ursache und Wirkung in diesem Punkt trennscharf zu unterscheiden. Resultierten Konflikte aus der Herkunft oder war die jeweilige konfessionelle Zugehörigkeit der entscheidende Punkt. Die harmlos daherkommenden „Banden“ jedenfalls, die die Jungen in Jüchen bildeten, definierten sich nach seiner Erinnerung über die Religion. „Da war man schon ein bisschen feindselig gegeneinander eingestellt.“ Für eine Dominanz des konfessionellen Aspekts spricht auch seine Feststellung, dass es in der evangelischen Schule keinerlei Ablehnung gegeben hätte. „Mit den einheimischen Evangelischen, da gab es überhaupt keine Probleme.“

 

Ein weiteres trennendes Element macht Gerd Bandemer im Qualifikationsprofil der Zugezogenen aus. Die einheimische Bevölkerung habe nicht nur geglaubt, dass da Fremde kommen würden, die ihr etwas wegnehmen würden, sondern schnell bemerkt, dass die Ankömmlinge „auch etwas konnten“. „Das waren keine Analphabeten. Im Gegenteil: Das waren sehr gut ausgebildete Leute“, die es schnell zu etwas brachten, „was den Einheimischen teilweise nicht gelungen ist“. Die seien es damals gewohnt gewesen, in einer Umgebung zu leben, die man aufgrund fehlender Mobilitäts- und Kommunikationsmöglichkeiten zeitlebens kaum verließ. Die Abgeschlossenheit der Lebenswelten habe dann auch dazu geführt, Unbekanntes abzulehnen. „Man hat dann gesagt: ‚Ach, das sind die Flüchtlinge, und die bringen uns nichts Gutes.‘“ Solches mit Angst vor Neuem gepaartes Misstrauen habe sich teilweise auch auf die Kinder übertragen. Alles in allem habe man damals in Jüchen als Flüchtling und Vertriebener „einen schweren Stand“ gehabt, lautet Gerd Bandemers Fazit seiner Kinder und frühen Jugendzeit.

 

Das mag auf den ersten Blick verwunderlich scheinen, wächst er damals doch sozusagen als „Eingeborener“ auf. Betrachtet man seine persönliche Situation jedoch genauer, wird seine Sichtweise verständlich. Gerd wird mit der das Familienleben dominierenden Geschichte von Flucht und Vertreibung groß. „In der Not rückt man zusammen“, sei damals die Devise der in den Westen vertriebenen Verwandtschaft gewesen, die sich oft in Garzweiler oder Jüchen getroffen und sich dann über die alte Heimat unterhalten habe. „Und ich habe mir das zu eigen gemacht“, resümiert er seine damalige innerfamiliäre Sozialisation. Man habe die alten pommerschen Lieder gesungen. „Da habe ich mitgesungen, und mich auch als Teil dessen verstanden.“

Aus den um Flucht und Vertreibung kreisenden Gesprächen der Erwachsenen entwickelt sich früh Gerds eigene Sicht auf die Dinge: „Das habe ich als ungerecht empfunden und gesagt: ‚Das muss geändert werden! Wir müssen doch wieder dorthin zurück, wo wir herkommen.‘“ Außerdem habe er als Kind in diesem Punkt intuitiv die tiefe „Traurigkeit der Eltern“ gespürt, die auf eine Rückkehr hoffen. Nicht ohne Folgen: „Dieses Gefühl habe ich dann auch gehabt: ‚Da muss ich wieder hin!‘“

 

Das führt dazu, dass das in Garzweiler geborene Nesthäkchen eine weitaus stärkere Bindung an Pommern entwickelt, als seine dort geborenen älteren Geschwister. Die seien aufgrund des Altersunterschieds für ihn doch „ein bisschen weiter weg“ gewesen. Seine familiären Bezugsgrößen sind eindeutig die Eltern. Das gilt umso mehr, als die beiden Schwestern aufgrund ihrer Eheschließungen das Elternhaus verlassen. Mit Bruder Jürgen tauscht sich Gerd in dieser Frage gar nicht aus. Entscheidend sei in dieser Phase für ihn stets das gewesen, „über was meine Eltern sich unterhalten haben“.

„Irgendwie muss der Mensch sich ja finden“, bringt Gerd Bandemer diese Phase seines Lebens, in der seine Eltern als Orientierungshilfen eine herausragende Rolle spielen, auf den Punkt. Ihre Wirkungskraft verlieren sie erst dann schrittweise, als Gerd 1960 auf eine weiterführende Schule nach Mönchengladbach wechselt, eine Veränderung, die er rückblickend als „Cut“ bezeichnet. In Mönchengladbach seien die Verhältnisse damals schon „ganz anders“ gewesen. „Da waren die Leute schon aufgeschlossener, und da war das schon gar kein Thema mehr.“

 

Die kindliche und frühjugendliche Prägung behält aber zeitlebens ihre prägende Wirkung. „Also, meine Heimat ist in Pommern“, lässt Gerd Bandemer keinerlei Zweifel aufkommen. Sein Zuhause sei hingegen in Jüchen, speziell der Ortsteil Hochneukirch, wo er seit seiner Eheschließung im Jahr 1969 lebt. Seine Hinwendung zur pommerschen Heimat der Eltern, da ist er sicher, werde von Dauer sein. „Das ist mein Gefühl.“ Zugleich lehnt er modernere Definitionen von Heimat strikt ab. „Heimat“ sei für ihn keineswegs der Ort, wo die Freunde seien. Er leitet sie aus der pommerschen Herkunft der Familie ab. „Das ist die Heimat meiner Vorfahren, also muss es zwangsläufig auch meine Heimat sein.

Herkunft und Schicksal seiner Eltern lässt in Gerd Bandemer früh historisches Interesse wachsen. Er beschäftigt sich intensiv mit der Geschichte des Nationalsozialismus. Hieraus zieht er den Schluss, dass trotz aller Barbarei des NS-Regimes und aller „einmaligen Verbrechen“, die in seinem Namen begangen worden seien, es nicht gerechtfertigt gewesen sei, Menschen aus ihrer angestammten Heimat zu vertreiben. „Ich kann nicht Gleiches mit Gleichem beantworten.“

 

Die Frage, ob er sich als Kind Vertriebener im Rheinland integriert fühle, beantwortet er mit der Feststellung, dass er den Begriff „Integration“ in diesem Punkt für ungeeignet halte. „Ich brauchte mich nicht zu integrieren. Ich war Teil dessen.“ Die Flüchtlinge und Vertriebenen, so erläutert er, seien Teil des eigenen Volkes gewesen, weshalb man nicht von Integration sprechen könne. Allerdings, so räumt er ein, hätten sich die Ankömmlinge „hier zurechtfinden“ und die Einheimischen ihren Teil dazu beitragen müssen. Das habe „sehr schnell funktioniert“, was jedoch nicht Ergebnis alliierter Anweisungen, sondern deutschen Organisationsgeschicks gewesen sei. Gerd Bandemer räumt ein, dass der Weg zur Akzeptanz lang und steinig gewesen sei und illustriert das mit einem kleinen Beispiel: Als Kind habe er anlässlich des Martinszuges den üblichen Weckmann erhalten und stolz nach Hause getragen. Auf dem Weg dorthin sei ihm ein älterer einheimischer Junge entgegen gekommen und habe seinem „Stutenkerl“ kurzerhand den Kopf abgerissen und gesagt: „So, du Flüchtling, das ist meiner!“ Er sei daher auch als am Niederrhein geborenes Kind von Vertriebenen durchaus stigmatisiert gewesen – „das ist gar keine Frage“. Solche Vorurteile hätten dann aber schnell an Kraft und Bedeutung verloren.

Rückblickend macht Gerd Bandemer einen deutlichen Unterschied zwischen einzelnen Ortschaften aus. Die Jüchener Bevölkerung habe sich in den ersten Nachkriegsjahrzehnten – nicht nur den Vertriebenen gegenüber - stets als sehr konservativ und entsprechend verschlossen gezeigt, während in Hochneukirch Fremdem und Fremden gegenüber eine liberalere, offenere Atmosphäre geherrscht habe. Er führt das auf die größere Nähe der Arbeiterwohngemeinde zu Mönchengladbach zurück, die früher „moderneren“ Einstellungen zum Durchbruch verholfen habe.

Trotz aller Vorbehalte, so schließt er das Gespräch, halte er die Einbindung der Flüchtlinge und Vertriebenen in Westdeutschland für eine „sehr gelungene Sache“, auch wenn er, der „pommersche Rheinländer“, wie Schwester Hannelore Beulen ihn bezeichnet, seine Heimat nach wie vor in Pommern sieht. Aber ein Zuhause im Rheinland ist ja auch wichtig.