Die Aufnahme im Hause Meising in Jüchen fällt nach der Erinnerung Werner Schuh „sehr herzlich“ aus. Die Meisings hätten ein großes Haus mit eigenem Park bewohnt. Zwar sei es dort nach Ankunft der vierköpfigen Familie enger geworden, aber wegen des Entgegenkommens von Frau Meising - ihr Mann ist zu diesem Zeitpunkt bereits verstorben, der Sohn im Krieg umgekommen - habe man nicht nur umräumen, sondern sogar noch ein Zimmer ans Haus anbauen können.
Der Aufenthalt habe mit einem großen Problem begonnen, denn der Jüchener Bürgermeister habe sich zunächst geweigert, Familie Schuh eine Aufenthaltsgenehmigung zu erteilen. „Obwohl die Frau Meising öfter da war, hat er die uns einfach nicht gegeben“, erzählt Werner Schuh, der dahinter bis heute eine Schikane des Bürgermeisters oder der Verwaltung vermutet. Der Grund ist aber wohl viel eher anderer und eher formaler Natur, denn die Schuhs sind offenbar aus Lindenau direkt nach Jüchen gereist. Nun muss zumindest Mutter Rosa den nachträglichen Weg durch das Einreiselager Friedland antreten. Nur wenn sie hier offiziell registriert ist, kann sie in den Prozess der Verteilung der zu dieser Zeit in großer Zahl in den Westen strömenden „SBZ-Flüchtlinge“ eingereiht und auf die „Quote“ angerechnet werden, die jede Gemeinde nach genau festgelegtem Verteilungsschlüssel an Flüchtlingen aufzunehmen hat.
Die Eingliederung in das Jüchener Alltagsleben fällt den Schuhs nicht zuletzt dadurch leichter, dass sie als Katholiken der dominierenden Konfession angehörten. Die katholischen und evangelischen Pfarrer, so erzählt Werner Schuh, seien damals alles andere als befreundet gewesen. Erst mit der nächsten Generation habe sich das im Zuge zunehmender Ökumene verändert. „Da ging dann der eine beim anderen in die Kirche.“ Auch die Schuhs unterhalten durchaus freundschaftliche Verhältnisse mit Anhängern des evangelischen Glaubens.
In der Schule ist die Behandlung des Neuankömmlings „verschieden“ - aber: „Die meisten waren uns wohlgesonnen.“ Natürlich habe es auch hier immer wieder Mitschüler und Lehrer gegeben, die auf die Flüchtlinge herabschaut hätten. „Das haben wir schon gespürt – auch in der Schule. Da waren schon welche, die waren sehr, sehr hässlich.“ In einigen Fällen sei es auch zu Handgreiflichkeiten unter den Kindern und Jugendlichen gekommen. „Aber man musste sich eben wehren. Da bin ich schon mit fertig geworden“, umschreibt Werner Schuh seinen Durchsetzungswillen.
Vorteilhaft wirkt sich für die Schuhs die Aufnahme im angesehenen Hause Meising aus. Das führt automatisch dazu, dass Familienangehörige in Jüchen mit einem gewissen „standing“ auftreten können und sozial eher akzeptiert werden als andere Zugezogene. Das wiederum bringt es mit sich, dass die Versorgung mit Gebrauchsgegenständen – wie etwa heißbegehrten Schuhen – relativ gut ausfällt. Eine solche Unterstützung haben die Schuhs aber auch dringend nötig, denn Mutter Rosa bezieht als Witwe mit drei minderjährigen Kindern anfangs lediglich eine monatliche Rente von 130 DM sowie Kindergeld. Dieses schmale Budget bessert sie durch Näh- und Ausbesserungsarbeiten für Ortsansässige auf. „Meine Mutter, die konnte alles.“