Kindheit ohne Erinnerungen – Sudetenland und Vertreibung

Wolfgang Kuhn wird am 29. November 1943 in Schatzlar (heute: Žacléř) im damals dem Deutschen Reich einverleibten Sudetenland geboren. Der überwiegend deutsch besiedelte Ort – 1930 waren 724 der 3.611 Einwohner Tschechen wird bei Kriegsende von tschechischen Behörden übernommen, die umgehend mit der Vertreibung der Deutschen beginnen. Davon sind auch Wolfgang und seine Familie betroffen, ohne dass der Anderthalbjährige an diese dramatische Phase seines jungen Lebens noch irgendwelche Erinnerungen hätte.

In mühsamer Recherchearbeit ermittelt er später folgende dürre Fakten: Seine Tante etwa wurde mit ihrer Familie nach Wollrode bei Kassel transportiert – ein Ort, der in Wolfgangs Leben noch eine große Rolle spielen sollte. Ihn selbst verschlugen die Nachkriegswirren mit seiner 1917 geborenen Mutter Frieda in die Nähe von Torgau. Der 1913 geborene Vater Raimund wird bei Kriegsende von Tschechen verhaftet und in einem Lager interniert, worüber Wolfgang Kuhn zu seinem großen Bedauern trotz großer Mühen später kaum etwas in Erfahrung bringen kann. Sein Vater hat nie über seine Lagererfahrungen erzählt. Seine Stiefmutter habe sehr viel später auf Nachfrage lediglich angedeutet, dass Raimund Kuhn dort viel habe erdulden müssen. Ein etwaiger Verbleib im Sudetenland, so viel scheint zumindest sicher, ist zu keinem Zeitpunkt eine Option gewesen, zumal beide Elternteile kein Wort Tschechisch sprachen.

 

Weil im Hause Kuhn später auch darüber nie gesprochen wird, bleiben die die weiteren Geschehnisse zwischen Mai 1945 und April 1946 ebenfalls bis heute weitgehend im Dunkeln. Anhand der wenigen erhaltenen Dokumente lässt sich – zwangsläufig vage - folgender Ablauf rekonstruieren: Nachdem ihr Mann Raimund, den sie im August 1939 geheiratet hat, verhaftet und interniert worden ist, wohnt Frieda Kuhn mit ihrem kleinen Sohn zunächst weiterhin in dem Schatzlarer Ortsteil Schwarzwasser (heute: Černá Voda), dem Geburtsort ihres Mannes, wo ihr das tschechische „Nationale revolutionäre Komitee Schwarzwasser“ unter dem Datum vom 1. Juni 1945 einen Ausweis ausstellt. Bereits zwei Monate später wird ihr am 1. August 1945 der Räumungsbefehl zugestellt. Innerhalb von nur 25 Minuten muss sie ihr Haus mit höchstens 25 Kilogramm Gepäck verlassen. Wertgegenstände müssen - bis auf Verlobungsring und eine Uhr – zurückbleiben, sämtliche Wohnungsschlüssel abgeliefert werden.

Ob dieser Räumungsbefehl tatsächlich zur Durchführung kommt, ist nicht endgültig gesichert, aber sehr wahrscheinlich. Dann aber klafft zwischen der Vertreibung aus dem Sudetenland und der offiziellen Registrierung in Döbrichau bei Torgau ein ungeklärter Zeitraum von rund neun Monaten, denn erst am 29. April 1946 wurde Frieda Kuhn vom „Amt der Arbeit“ in Torgau eine „Dauerkontrollkarte“ ausgestellt, am 26. Mai dann die offizielle „Registrierkarte“ der Gemeinde Döbrichsau. Alles, was ihm und seiner Mutter zwischen dem 1. August 1945 und dem 29. April 1946 widerfuhr, wird für Wolfgang Kuhn wohl für immer im Dunkeln bleiben.

 

Auch über andere Dinge wird in der Familie später nie mehr gesprochen. So ist Wolfgang Kuhn bis heute unbekannt, welche politische Einstellung sein Vater vor 1945 vertreten hat, wie er zum NS-Regime stand, wie zur Okkupation des Sudetenlandes im Jahr 1938. Auch diese Themen stellen wie der Komplex von Flucht und Vertreibung zeitlebens ein innerfamiliäres Tabu dar.