„Mir ging es da gut“ – Erinnerungen an Pritzier

Wolfgangs Leben, das heißt das, an was er sich erinnern kann oder worüber im Familienkreis gesprochen wurde, beginnt eigentlich erst im Herbst 1946. Nachdem sein Vater den Aufenthaltsort von Ehefrau und Sohn ermittelt hat, setzt er alles daran, die Familie wieder zusammenzuführen. Am 17. September 1946 erteilt die Gemeindeverwaltung von Pritzier im Bezirk Schwerin , wohin es ihn – ebenfalls unter ungeklärten Bedingungen - nach seiner Entlassung aus der tschechischen Internierung verschlagen hat, eine Zuzugsgenehmigung, die es ermöglicht, Frieda und Wolfgang Kuhn aus Döberichau nach Mecklenburg zu holen.

Erst mit der Ankunft in Pritzier setzten Wolfgang Kuhns Kindheitserinnerungen ein. Vater Raimund ist hier auf einem „volkseigenen“ Gut als Schlosser beschäftigt und bewohnt mit vielen anderen Geflohenen und Vertriebenen im ehemaligen Herrenhaus ein kleines Zimmer. In diesem Zimmer „unten rechts“ werden nun auch Wolfgang und seine Mutter untergebracht. „Hier haben wir geschlafen, hier wurde gekocht.“ Die Beengtheit empfindet der fast Dreijährige jedoch nicht als störend. „Mir ging es da gut“, betont Wolfgang Kuhn rückblickend. Es sind insbesondere die für ihn völlig neuen und zuvor ungeahnten Möglichkeiten, die das Gut als riesengroßer Spielplatz bietet: „Wir haben da Verstecken gespielt mit den großen Kindern, wir waren bis nachts draußen im Dunkeln.“ Überall gibt es etwas zu entdecken und manchmal auch – wie die in großen Mieten lagernden Möhren – etwas zu essen. Als besonders attraktiv erleben die Kinder die große Scheune, die spannende, wenn auch nicht immer ungefährliche Möglichkeiten für Spiel und Spaß bietet.

 

Vater Kuhn ist ein kreativer Schlossermeister, der seinem Sohn nicht nur mit einfachsten Mitteln ein Fahrrad baut und ihm das Fahren darauf beibringt, sondern er ist auch in anderer Hinsicht findig. Er konstruiert eine Ölmühle, in der dann zur Ölgewinnung die von der Familie gesammelten Bucheckern auspresst werden. „Mit diesem Öl haben wir dann Plinsen gebacken, also Reibekuchen.“

 

1947 wird es für einige Zeit noch enger. „Onkel Lenz“, ein Bruder der Mutter, hat die Kuhns in Pritzier ausfindig gemacht und zieht mit in das ohnehin schon mehr als enge Zimmerchen, wo er sich mit Wolfgang ein Bett teilt. Weil er, der im Krieg einen Arm verloren hat, aufgrund dieser körperlichen Einschränkung in der sowjetisch besetzten Zone keine Unterstützung erfahren habe, so erzählt es Wolfgang Kuhn, sei er nach einiger Zeit „in den Westen“ gewechselt, wo er einen Arbeitsplatz in der Münchener Löwenbrauerei findet. Dort wird ihm auch ein „Sauerbruch-Arm“ angepasst, die ihn in die Lage versetzt, wieder Motorrad zu fahren. Damit ist „Onkel Lenz“ einer jener rund 50.000 armamputierten Männer des Zweiten Weltkriegs, denen mit Hilfe dieser bereits gegen Ende des Ersten Weltkriegs erdachten und 1920 patentierten Prothese die Eingliederung ins Arbeitsleben erleichtert wird.

Trotz aller Enge und Beschwerlichkeiten empfindet Wolfgang Kuhn die Jahre in Pritzier auch im Rückblick noch immer als weitgehend unbeschwert. In dieser Zeit erfährt die Familie außerdem weiteren Zuwachs, denn im Dezember 1948 kommt sein kleiner Bruder Harry zur Welt. Daraufhin gelingt es Raimund Kuhn, dass ihm eine größere Wohnung am Rande von Pritzier zugewiesen wird.