„Hier ruht fern der Heimat meine liebe Frau, unsere gute Mutti“ - Tod der Mutter

Die zumindest für den Achtjährigen schöne Zeit in Pritzier erfährt Anfang 1952 einen tiefen Einschnitt. Am 2. Februar 1952 stirbt Mutter Frieda – wie Wolfgang Kuhn vermutet an Darmkrebs. Er kann sich noch sehr genau an die zahlreichen Besuche im Krankenhaus erinnern. „Hier ruht fern der Heimat meine liebe Frau, unsere gute Mutti“, lässt Raimund Kuhn auf den Grabstein gravieren.

Doch wie soll er, der den ganzen Tag als Schlosser arbeitet, seine beiden acht und drei Jahre alten Söhne beaufsichtigen? Man entscheidet sich für eine familieninterne Aufteilung: Tante Martha kommt zur Beerdigung aus Wollrode und nimmt den kleinen Harry anschließend illegal mit nach Hessen. „Sie ist mit ihm nachts sieben Kilometer – sich vor den russischen Soldaten versteckend - am Bahndamm von Pritzier bis nach Hagenow gelaufen, um dort in den Zug einzusteigen.“

Damit hat Wolfgang nicht nur die Mutter, sondern zugleich auch seinen kleinen Bruder verloren, wenn auch nur für kurze Zeit. Er nimmt den neuerlichen Verlust zumindest äußerlich recht gelassen hin. „Das war normal, das ist so gelaufen.“ Besonders negative Erinnerungen an diese Phase seines Lebens kann er rückblickend jedenfalls nicht ausmachen. Sein Bruder sei aus seiner Perspektive des Achtjährigen zu jung gewesen, als das sich zuvor eine enge Bindung hätte aufbauen können. „Mit ihm hatte ich noch wenig Berührung.“

 

Auch Wolfgang selbst findet gute und liebevolle Betreuung. Die neue Wohnung am Rande von Pritzier, die die Familie nach der Geburt des zweiten Sohnes bezogen hat, gehört der ebenfalls im Haus wohnenden Familie Dikomey, die nach dem Tod von Frieda Kuhn tagsüber die Aufsicht übernimmt. Besonders an Herrn Dikomey hat Wolfgang Kuhn bis heute gute und unauslöschliche Erinnerungen: „Der Mann hatte im Ersten Weltkrieg ein Bein verloren und fuhr mit einem dreirädrigen Rollstuhl, vorne mit einer Karbidlampe. Er war Schuhmacher und hatte dadurch Zeit, mich bei den Hausaufgaben zu beaufsichtigen. Das Einmaleins mit der 9 war zu lernen. Ich sollte vom zwei Kilometer entfernten Bahnhof ein Päckchen aus dem Westen mit dem Fahrrad abholen. Opa Dikomey sagte: ‚Da hast Du Zeit, das Einmaleins mit der 9 zu lernen. Von der 9 angefangen, vorne eine Zahl mehr und hinten eine Zahl weniger.‘ Als ich zurückkam, konnte ich es. Das kann ich nicht vergessen.“

Die langen Schatten des Krieges bringen Aufregung ins sonst so beschauliche Pritzier und graben sich tief ins kindliche Gedächtnis ein. Wolfgang Kuhn berichtet: „Es war bekannt, dass auf einer Wiese im Schlosspark ein russischer Soldat begraben war. Eines Tages sollte der Soldat exhumiert und auf einen Soldatenfriedhof in Hagenow umgebettet werden. Mein Vater und ich waren dabei. Der Soldat wurde freigelegt, hatte seine Uniform noch an. Er war vollkommen erhalten, und sein Gesicht war gelblich-grün. Man hob ihn vorsichtig heraus und einer sagte: ‚Er hat so schöne Stiefel an, die kann man ja noch gebrauchen.‘ Er zog an den Stiefeln, die Haut am Bein riss auf, und eine unheimlich stinkende Flüssigkeit lief heraus. Ich rief: ‚Oh, das stinkt ja wie der Deibel!‘ und bin weggerannt.“ - Auch das mussten Achtjährige im Nachkriegsdeutschland wie selbstverständlich aushalten.

Als besonders angenehm erinnert Wolfgang Kuhn hingegen den Kontakt zur Tochter der Dikomeys, die ihm erste Zugänge zur Kultur eröffnet. Sie spielt nämlich im örtlichen Mandolinenorchester und nimmt ihn häufiger mit zur Probe. „Das war meine erste Beziehung zur Musik. Noch heute höre ich gerne Mandolinenklänge und denke automatisch an meine Kindheit.“