„Das war schlimm!“ - Nach Priesterath

Nach gut einem Jahr endet für den nun Zehnjährigen auch die Wollroder Zeit wieder recht abrupt. Sein Vater, da ist sich Wolfgang Kuhn sicher, habe damals unter erheblichem Stress gestanden, denn er habe wegen der Kinder eine neue Frau finden müssen, was für einen mittellosen Flüchtling nicht eben einfach gewesen sei. Zum Glück habe er dann aber mit „Schwester Barbara“ seine künftige Stiefmutter kennengelernt, die damals als Hebamme in Priesterath tätig gewesen sei.

Die Söhne sehen sich mit vollendeten Tatsachen konfrontiert: Raimund Kuhn findet eine Arbeitsstelle als Schlosser in der Maschinenfabrik Buckau R. Wolf in Grevenbroich und heiratet Barbara. „Wie das dann hier so in Ordnung war“, holen sie Wolfgang und Harry aus dem ihnen mittlerweile so vertrauten Wollrode in das völlig unbekannte Priesterath. Das sei „schon alles in Ordnung“ gewesen, urteilt Wolfgang Kuhn rückblickend, wobei man ihm aber in dieser Hinsicht noch heute eine gewisse Distanz und auch eine Art von Unwohlsein anmerkt.

 

„Das war schlimm“, sind die ersten und zentralen Worte, mit denen Wolfgang Kuhn auf die Frage antwortet, wie denn damals das Gefühl gegenüber der so plötzlich in seinem jungen Leben erschienen Stiefmutter gewesen sei. Schlimm ist es insbesondere deshalb, weil ihm schnell bewusst wird, dass „Schwester Barbara“, wie er sie noch heute häufig nennt, „nicht meine Mutter und nicht meine Tante“ ist. Erschwerend kommt hinzu, dass die Stiefmutter als ausgebildete Krankenschwester und Hebamme einen nicht eben „zimperlichen“ Umgang pflegt. Zugleich räumt Wolfgang Kuhn aber ein, dass sie sicherlich „nur das Beste“ für ihn und seinen kleinen Bruder angestrebt habe.

 

Den Neubeginn in der Priesterather Volksschule erlebt Wolfgang hingegen als Erfolg. „Ja, da war dann wieder alles neu.“ Als er an seinem ersten Schultag zur Tafel gerufen wird und dort ein Wort nach dem anderen anschreiben muss, bis er die halbe Fläche gefüllt hat, ist er zunächst irritiert. „Dann schreib ich wieder ein Wort, und dann ist da ein Fehler drin. ‚Aaaah!‘ Da ging ein Aufatmen durch die Klasse: ‚Endlich hat er mal was falsch gemacht!‘“ Offenbar liegt sein Kenntnisstand trotz aller fluchtbedingten Unterbrechungen und Schulwechsel weit über dem der ortsansässigen Kinder.

Insgesamt, so betont Wolfgang Kuhn rückschauend, habe sich aber auch in Priesterath ein gutes Verhältnis zu den Mitschülern entwickelt. Zudem habe Lehrer Martin es gut mit ihm gemeint und ihn dadurch gefördert, dass er ihn regelmäßig einmal wöchentlich per Fahrrad mit nach Garzweiler zum „Landwirtschaftsunterricht“ genommen habe. Der Lehrer sieht das als Vorbereitung für den Besuch des Gymnasiums.

 

Auch in anderer Hinsicht hat Wolfgang Glück: Er ist katholisch! Die daraus erwachsenden Vorteile bemerkt er bei einem gemeinsam mit seinem Bruder unternommenen Ausflug nach Jüchen. Hier droht nämlich schnell Ungemach. Als er sich mit Harry an der Hand durch die Kasterstraße dem Markt nähert, treffen sie auf mehrere spielende Jungen. Die etwa Gleichaltrigen unterbrechen ihr Spiel und laufen auf die Brüder zu: „Seid ihr evangelisch oder katholisch?“ Glücklicherweise kann Wolfgang wahrheitsgemäß die in diesem Augenblick richtige Antwort geben: „‚Katholisch.‘ ‚Ja, dann dürfen wir euch nichts tun. Sonst hättet ihr Prügel gekriegt.‘ Ja, da waren wir natürlich glücklich.“

Später, so erzählt Wolfgang Kuhn weiter, sei er mit dem damaligen Wortführer im gleichen Schützenzug aktiv gewesen. Als er ihn einmal auf den bei ihm nach wie vor tief sitzenden Vorfall angesprochen habe, habe der nunmehrige Freund geantwortet: „Ja, ja, das war so. Wenn Du evangelisch gewesen wärest, hättest Du Prügel gekriegt.“ – Man kann sich leicht ausmalen, wie es jenen Mädchen und Jungen ergangen sein wird, die den Jüchener Markt mit der „falschen“ Konfession und ohne erwachsenen Beistand in jenen Jahren passiert haben.