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Die Schule war bis 1933 neben der Familie der unumstrittene Ort kindlicher und jugendlicher Erziehung und Ausbildung. Mit der NS-Machtübernahme wurde hier allerdings nicht mehr nur unterrichtet, sondern häufig auch massiv ideologisch beeinflusst. Außerdem versuchten die Nationalsozialisten zunehmend verschiedene Formen von Lagererziehung zu etablieren, in deren Rahmen eine Indoktrination und Wehrerziehung noch effektiver möglich war. Im Krieg wurden die so beeinflussten Heranwachsenden dann zunehmend zu Kriegshilfsdiensten der unterschiedlichsten Art herangezogen.

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Lager als Erziehungsform

Die Nationalsozialisten im Allgemeinen und Hitler im Besonderen waren keine besonders euphorischen Verfechter der klassischen Schulbildung und -erziehung. Um die unbedingte ideologische Ausrichtung auf NS-Ziele zu gewährleisten und Lebensstil sowie „Charakter" der Deutschen in ihrem Sinne zu durchdringen, glaubten sie die vorhandenen Erziehungsinstanzen mit Blick auf die Jugend und jüngere Erwachsene durch eine Reihe neuer außerschulischer Erziehungseinrichtungen ergänzen zu müssen[1]

Als „pädagogischen Raum" für eine möglichst effiziente und wirkungsvolle Realisierung der hieraus resultierenden Ansprüche hielten die Verantwortlichen das Lager für die weitaus beste Lösung, da man es - wie etwa der renommierte NS-Pädagoge Rudolf Benze - für die angestrebte „tiefe Erfassung des ganzen Menschen" für besonders geeignet hielt. Mit Adolf Mertens sah ein weiterer NS-Protagonist im Lager den „treffendsten, sichersten und naturbedingten Ausdruck für die Entfaltung des deutschen Menschen".

Kiran Klaus Patel, der sich intensiv mit Funktion und Bedeutung der Lagersysteme während der Zeit des Nationalsozialismus auseinandergesetzt hat, charakterisiert die nach 1933 weit verbreiteten NS-Formationslager als „Treibhäuser", in denen die Gesellschaft versucht habe, „den Charakter von Menschen zu verändern". Letztlich habe es sich bei den Lagern stets um zwar reale, gleichzeitig aber auch idealtypische Orte gehandelt, „in denen Gesellschaft stattgefunden" habe. Hier habe das NS-Regime versucht, seine - rassistischen und inhumanen - Utopien zu verwirklichen. Deshalb sei diesen Lagern stets auch eine beispielhafte Funktion zugekommen, da in ihnen das allgegenwärtige und seitens der NS-Propaganda gebetsmühlenartig gepredigte Prinzip der „Volksgemeinschaft" in einem „Arrangement räumlicher und zeitlicher Strukturen operationalisiert" worden sei. In den verschiedenen Ausbildungs- und Formationslagern der NS-Zeit sollten die Prinzipien des Nationalsozialismus idealtypisch realisiert und die Lagerinsassen gleichsam zu einer Art Avantgarde werden.

Der auf solche Art und Weise angestrebten „Perfektionierung des ‚Ariers'" in Form einer „Auslese" stand im rassistischen NS-Weltbild stets auch die „Ausmerze" jener  zur Seite, die den Kriterien von „Volksgemeinschaft", „Blut und Boden" und weiterer sozialer Maximen nach NS-Definition nicht gerecht wurden. Aber selbst den „Auserwähltesten" der Jahre zwischen 1933 und 1945 - etwa Schülern der „Adolf-Hitler-Schulen" oder der „Nationalpolitischen Erziehungsanstalten", die in Internaten mit lagermäßigem Betrieb untergebracht waren - wurde permanent vermittelt, dass ihr privilegierter Status von permanenter Leistung, Bewährung und Unauffälligkeit abhing. „Er blieb letztlich immer Gnadenbeweis."

Patel hält das Lager für ein bisher unterschätztes „Signum des Nationalsozialismus", so wie er überhaupt anregt, das 20. Jahrhundert insgesamt auch als „Jahrhundert der Lager" zu bezeichnen. Zwar dürfe man dabei, so betont er ausdrücklich, die verschiedenen Lagertypen - und hier insbesondere jene, die auf „Ausmerze" ausgerichtet waren - nicht einfach gleichsetzen, doch geht er von der Annahme aus, das sämtliche Lagerorganisationen der NS-Zeit als sich über das ganze Land erstreckendes Netz stets aufs engste untereinander verknüpft gewesen seien.  Und letztlich, so könnte man zustimmend hinzufügen, waren ja letztendlich eben auch die auf „Auslese" ausgerichteten Lager vom Grundgedanken her nicht positiv gedacht, sondern sollten ihre jeweiligen Insassen manipulieren, beeinflussen, disziplinieren und damit letztlich im Regimesinne instrumentalisierten.

„Raumorganisation" und „Zeitordnung"

Nach seinen Erkenntnissen, so Kiran Klaus Patel, hätten die verschiedenen Lager der NS-Zeit ungeachtet aller Unterschiede wichtige gemeinsame Entwicklungslinien aufgewiesen, deren abschließende Analyse und präzise Definition derzeit jedoch noch nicht möglich sei. „Es bedürfte einer eigenen, größeren Studie, um dieser Frage einmal angemessen nachzugehen." Unter den Stichworten der „Raumorganisation" und der „Zeitordnung" kommt er zu folgenden vorläufigen Ergebnissen (die sich allerdings auf die Ausgestaltung von Lagern für Männer bzw. männliche Jugendliche konzentrieren und die jeweiligen weiblichen Varianten weitgehend unberücksichtigt lassen):

Hinsichtlich der „Raumorganisation" stellt Patel fest, dass es verschiedene Lagerformen auch schon vor 1933 gegeben habe. Nach 1933 sei jedoch die „große Varianzbreite der räumlichen Unterbringung" erheblich reduziert und durch Standardisierungsbestrebungen abgelöst worden. Folge war eine zunehmende Normierung und Standardisierung des Lageraufbaus, der sich mit seinen Sichtachsen und Gebäudeanordnungen am Kasernenbau orientierte. Besonders ausgeprägt war diese Tendenz im Bereich des Reichsarbeitsdienstes (RAD) zu beobachten, wobei die hier gesammelten Erfahrungen und die daraus erwachsenden Ergebnisse dann von anderen Organisationen kopiert wurden.

Nach Patel entwickelten sich im Laufe der Jahre hinsichtlich der Funktion und des daraus resultierenden Aufbaus der Lagersysteme zwei „Kerntendenzen" mit vier intendierten Zielen, die „die für das Erziehungsdenken und die pädagogische Praxis des Nationalsozialismus zentrale Kombination von Erziehung und Exklusion" widergespiegelten. „Die Normierungen und Standardisierungen sollten die Belegschaften vereinheitlichen, sie mobil und transparent machen." Es sei letztlich stets darum gegangen, eine „möglichst totale Lagererfahrung" herzustellen, weshalb sich die Lagerkonzeption stark dem Idealtypus der „totalen Institution" angenähert habe. Die vier wesentlichen Ziele lassen sich so zusammenfassen:

- Erstens habe es gegolten, „die Männer durch die Ordnung des Raumes und seine Unterteilung in verschiedene Segmente einer umfassenden Kontrolle und Disziplinierung zu unterwerfen", wobei die abgelegenen Standorte diesen Aspekt der Disziplinierung unterstützen sollten. „Die Lagerinsassen sollten von ihrem Alltag getrennt und zugleich auch von allen anderen sozialen Einflüssen abgelöst werden".
- Zweitens sollte das Lager - auch schon im Landjahr - möglichst frühzeitig an alles Militärische gewöhnen, wobei durch architektonische Mittel wie Eingangstore, Zäune oder Wachhäuser eine deutliche Trennung zwischen „innen" und „außen" symbolisiert wurde.
- Drittens sollte das Lagerleben zur „Entindividualisierung" beitragen und eine „Erlebnisgemeinschaft" fördern. „Lagererziehung war laut NS-Sicht die Erziehung vom ‚ich' zum ‚wir'."
- Viertens sollte das Lager zudem das „Erlebnis der Natur" vermitteln, wobei sich dahinter die Vermittlung der Blut- und Bodenideologie mit dem ihr innewohnenden Rassismus und das Bestreben der Abhärtung durch harte Arbeit verbargen.

In den Lagern sei dann der „Zeitordnung" eine wichtige Funktion zugekommen. „Die Ordnung der Zeit zielte konzeptionell in all diesen Lagersystemen in die gleiche Richtung wie die pädagogische Gestaltung des Raumes. Was immer der genaue Auftrag der Einrichtung war: Jeweils sollten die Lagerinsassen nicht frei über ihre Zeit verfügen können, nicht einmal am Feierabend." So wurde auch die Regulierung der Zeit genutzt, um „den totalen Zugriff" auf die Lagerinsassen zu realisieren, sie zu kontrollieren und in eine „Gemeinschaft" umzuformen.

Für eine angemessene Beurteilung der zeitlichen Dimension ist auch die Dauer einer Maßnahme selbst zu berücksichtigen, da ein mehrmonatiger Lageraufenthalt natürlich wirkungsmächtiger war als etwa ein Wochenendlager oder ein „nationalpolitischer Lehrgang" über eine Woche.

Während des Krieges, so Patel, sei mit Blick auf die Lager die erzieherische Dimension deutlich hinter die kriegsbezogenen Arbeitsleistungen zurückgetreten. Das trifft mit Blick auf das Landjahr oder den Reichsarbeitsdienst sicherlich in vollem Umfang zu, vernachlässigt jedoch den Aspekt, dass mit der „Erweiterten Kinderlandverschickung" (KLV) seit Ende 1940 ein völlig neues und anders motiviertes wie auch geartetes Lagersystem hinzutrat, in dem ebenfalls Erziehung - und nicht nur schulische - „stattfand". Während unter diesem Themenpunkt den Phänomenen „Landjahrs" und „Reichsarbeitsdienst" sowohl in seiner männlichen als auch weiblichen Spielart nachgegangen wird, ist der KLV ein eigener thematischer Schwerpunkt gewidmet.

Fußnoten

[1] Das Folgende nach Kiran Klaus Patel: „Sinnbild der nationalsozialistischen Weltanschauung"? - Die Gestaltung von Lagern und Ordensburgen im Nationalsozialismus; in: Paul Ciupke/Franz-Josef Jelich (Hrsg.): Weltanschauliche Erziehung in Ordensburgen des Nationalsozialismus. Zur Geschichte und Zukunft der Ordensburg Vogelsang, Essen 2006, S. 33-51 und ders.: „Auslese" und „Ausmerze". Das Janusgesicht der nationalsozialistischen Lager; in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 54 (2006), S. 339-365

zuletzt bearbeitet am: 19.04.2016