Der Fund - Einleitung
Im Juli 2017 erreichte das NS-Dokumentationszentrum eine ungewöhnliche Anfrage: Eike Otto aus der Nähe von Berlin fragte an, ob eventuell Interesse an der Übernahme von Teilen des Nachlasses seines Vaters bestehen würde, in dem sich neben anderen Zeitzeugnissen rund 90 alte Schellack-Platten befänden, die sich vornehmlich mit Themen der NS-Jugenderziehung beschäftigen würden.
Der Hintergrund ist folgender: Der 1929 geborene und im April 2017 verstorbene Gert Otto war, bevor er 1974 als evangelischer Pfarrer zunächst in Halver, dann in Hagen tätig wurde, in den 1960er Jahren als Diakon in der Seemannsmission in Istanbul aktiv gewesen, die dort im Gebäude des alteingesessenen deutschen Vereins „Teutonia“ untergebracht war. Hier habe, so weiß sein Sohn Eike zu berichten, sein Vater dann bei Umbauarbeiten offenbar in einem Verschlag versteckte Schallplattenausnahmen aus der NS-Zeit entdeckt, vor der Vernichtung gerettet und in den 1970er Jahren mit nach Deutschland genommen, wo sie seitdem unbeachtet in seiner Wohnung aufbewahrt worden seien.
Für das NS-Dokumentationszentrum stellen diese Audio-Aufnahmen einen hochinteressanten Fund dar, zumal sie ein parallel betriebenes Editionsprojekt zur NS-Lagererziehung ideal ergänzen. Daher wurde das angebotene Konvolut übernommen und nach Köln geholt.
Damit war der Fund zwar gesichert, jedoch noch lange nicht nutzbar. Es ist Michael Lang – Rechtsanwalt in Köln und begeistertem Sammler von Schellackplatten – zu danken, dass das dann in kurzer Zeit geschah. Er erklärte sich bereit, das gesamte Plattenkonvolut in ehrenamtlicher Arbeit zu sichten, zu säubern, zu digitalisieren, zu verzeichnen und inhaltlich zu erschließen, so dass es umgehend nutzbar wurde.
Zugleich galt es, auch die Fund- und Überlieferungsgeschichte der Sammlung zu dokumentieren und zu beschreiben. Dabei kam es, wie es so oft kommt: Es stellte sich heraus, dass zu sämtlichen Aspekten, die das Thema berührten, bislang recht wenig bekannt ist. Eins kam zum anderen und das Projekt nahm zuvor nicht geahnte Ausmaße an.
Das begann mit dem Finder Gert Otto und der Tatsache, dass er offenbar nur einen kleinen Teil der insgesamt in der „Teutonia“ aufbewahrten Schellackplattensammlung aufgehoben und mit nach Deutschland genommen hatte. Auch wenn sich die genauen Umstände des Auffindens im Rahmen von Umbau- oder Renovierungsarbeiten letztlich nicht mehr rekonstruieren ließen, fällt doch die spezifische von Gert Otto getroffene Auswahl ins Auge. Es handelte sich zum weitaus größten Teil um NS-Propagandaaufnahmen, die vorwiegend um das Thema der vom NS-Regime angestrebten „Erziehung“ von Kindern und Jugendlichen kreisen. Daher steht zu vermuten, dass der Finder eine gezielte Auswahl vornahm, deren Kriterien wohl nicht zuletzt in dessen eigener Biografie zu suchen sind. Daher gilt es zunächst die Lebensgeschichte von Gert Otto auf Grundlage von dessen eigener Autobiografie zu skizzieren, um auf dieser Grundlage zu erörtern, welche Kriterien seine Wahl der Platten (mit-) bestimmten.
Schnell fiel auf, dass die auf den Schallplatten versammelten Beiträge mit einer bestimmten Intention, nämlich der Propagierung des Nationalsozialismus für im Ausland lebende Deutsche, produziert worden sind. Im Rahmen einer unbedingt notwendigen sinnvollen Kontextualisierung der ja alles andere als unproblematischen Inhalte galt es daher, zunächst auch Geschichte und Funktionen der Auslandsorganisation der NSDAP (NSDAP-AO) zu skizzieren, um den Fund in seiner Bedeutung und Entstehungsgeschichte besser einordnen zu können. Immerhin gibt es zu diesem Themenkomplex der NS-Zeit bereits einiges an Forschungen, auf deren Ergebnisse für die kurze Skizze zurückgegriffen werden konnte.
Das verhielt sich mit dem Urheber und Verteiler der Schallplattenaufnahmen dagegen völlig anders. Über die eng mit dem im März 1933 geschaffenen Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda (RMVP) verknüpfte „Zentralstelle für Deutsche Kulturfunksendungen im Ausland“ ist bislang nur sehr wenig bekannt. Da sie aber sowohl für die Produktion der auf Schallplatte überlieferten Sprachaufnahmen als auch für die Ausgestaltung von „Sendeprogrammen“ für „Deutsche Stunden“ in ausländischen Rundfunkanstalten sowie für die weltweite Verteilung der Tonträger verantwortlich zeichnete, mussten Entstehung, Aufgaben und praktische Arbeit dieser erst im Laufe des Herbst 1933 ins Leben gerufenen Stelle aus den wenigen verfügbaren Quellen völlig neu erarbeitet werden. Die Ergebnisse werden an dieser Stelle erstmals präsentiert und sind für jegliche Form von Ergänzungen oder Korrekturen offen.
Schließlich galt es sich auch mit dem Fundort, dem Heim des Vereins „Teutonia“ in Istanbul und damit zugleich auch mit der Geschichte der dort lebenden deutschen Gemeinschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auseinanderzusetzen. Wie reagierten die Deutschen am Bosporus auf das NS-Regime und die Arbeit der NSDAP-AO vor Ort? Wie und wann kamen die Schallplatten in die Türkei? Wie und mit welchem Erfolg wurden sie eingesetzt? Das sind einige der Fragen, denen auf der Grundlage der verfügbaren Literatur nachzugehen war.
Zu guter Letzt werden dann die durch den Zufallsfund verfügbar gewordenen Audio-Quellen in Gänze präsentiert. Hierzu war jede einzelne von ihnen zu beschreiben und kurz einzuordnen, mit Label-Scans zu versehen und – soweit möglich - mittels Aufnahmeprotokollen oder Katalogeinträgen detailliert nachzuweisen. Und natürlich ist jede einzelne dieser Aufgaben als Audiofile verfügbar und damit direkt hör- und nutzbar.
Zu danken gilt es abschließend – neben Michal Lang - Eike Otto, der das Projekt mit zahlreichen Hinweisen unterstützte und weitere Informationen zur Lebensgeschichte seines Vaters zur Verfügung stellte. Dem Verein „Teutonia“ in Istanbul und hier insbesondere der Vereinsarchivarin Beate Kretzschmann gilt mein Dank für die Unterstützung in Form von Informationen und Abbildungen, dem Deutschen Rundfunkarchiv (DRA) in Frankfurt für die freundliche Kooperation.
Köln, im Frühjahr 2020
Martin Rüther