Der Finder: Gert Otto

Gert Otto wurde am 20. Juni 1929 in Börnichen bei Oederan in Sachsen geboren.[1] Er wuchs zunächst in recht armen, von der Wirtschaftskrise geprägten Verhältnissen auf. Seine Mutter, so schreibt er, sei täglich den langen Weg nach Oederan gegangen, um dort zunächst in einer Tuchfabrik, später als „Haustochter“ in einer Metzgerei zu arbeiten. Daher habe seine Großmutter, bei der er lebte, bei ihm die Mutterstelle eingenommen. Er habe sie sogar „Mutter“ genannt. Ansonsten, so Gert Otto, habe er an seine Kindheit „nur noch wenige Erinnerungen“.

Über seinen Vater verliert er in seiner umfangreichen Autobiografie kaum ein Wort.[2] Lediglich an jenen Punkten, wo dessen „Karriere“ für Umzüge der Familie verantwortlich war, kann man Johannes Otto als jemanden erahnen, der offenbar früh den Weg zur NSDAP gefunden hat und in deren Apparat - genauer im Rahmen des Aufbaus der Konzentrationslager - einen „beruflichen“ und sozialen Aufstieg erfuhr. Als Gert sechs Jahre alt war, fand der erste Ortswechsel statt, weil sein Vater nach Sachsenburg versetzt wurde, „wo es ein ‚Schutzhaftlager‘ für politische Gefangene gab“.[3] Hier, wo viele Angehörige der Wachmannschaften die Grundlagen für ihre späteren Aufstiege im System der Konzentrationslager legten, besuchte der kleine Gert den Kindergarten, an dessen „freundliche“ Kindergärtnerin er sich ebenso zeitlebens erinnern konnte wie an die von ihm auch nach 1945 weiterhin durchaus positiv beurteilten Erziehungskriterien des NS-Regimes: „Es stand nicht der einzelne im Vordergrund, sondern die Gemeinschaft, der sogenannten Volksgenossen war wichtig. Es ging nicht - wie heute – um Selbstfindung und Selbstverwirklichung. Die Persönlichkeitsbildung war auf das Freund- und Kamerad-Sein ausgerichtet. ‚Einer für alle und alle für einen‘ hieß schon im Kindergarten die Devise.“[4]

Als das KZ Sachsenburg 1937 geschlossen wurde, wechselte Johannes Otto nach Oranienburg ins KZ Sachsenhausen, womit auch eine dienstliche Beförderung verbunden war. Hier wohnte künftig auch die Familie in einer eigens angelegten „SS-Siedlung“, und Gert Otto schloss hier 1943 die Volksschule ab. Ansonsten verlor er auch über diese Zeit seiner Kindheit später und in selbst in seiner umfangreichen Autobiografie kein Wort. Dabei scheint sich der als „Pimpf“ aktive Gert im „Lebensraum Konzentrationslager“ recht wohl gefühlt zu haben. Jedenfalls skizziert Sohn Eike Otto auf der Grundlage der in dieser Hinsicht spärlichen Erzählungen seines Vaters folgendes Bild: Nach der Schule sei er mittags mit den Wachmannschaften in der KZ-Kantine zum Essen gegangen. Überhaupt sei er dort „gern gesehen“ gewesen und habe sein gesamtes Umfeld „als kleiner Junge sicher als faszinierend“ empfunden. Die „Häftlinge“ – das sei, so Eike Otto, der von seinem Vater benutzte Begriff für die KZ Insassen gewesen – hätten ihm ein Paddelboot gebaut, das ihm sein Vater versprochen hatte, wenn er im Rahmen einer Mutprobe den Sprung von einer Oranienburger Brücke ins Wasser wagen würde. Die Haushälterin der Ottos habe den kleinen Gert, der sie wegen der emotionalen Kälte seiner Mutter so wie zuvor die Großmutter ohnehin als Ersatzmutter empfunden habe, fürsorglich betreut. Der Umgang mit den in Sachenhausen internierten Menschen gehörte zu Gerts „normalem“ Alltag. Sie wurden zur Arbeit im elterlichen Garten rekrutiert und dürften ihn als Sohn eines SS-Offiziers sicherlich entsprechend respektvoll und vorsichtig begegnet sein.[5]

Fußnoten

[1] Alles Folgende nach Gert Otto: Die blaue Schürze. Autobiografie, Berlin 2015 (2. Auflage), Einzelnachweise nur bei Zitaten. Es mag eigenartig erscheinen, aber die Verwendung von Bildmaterial, das etwa in der „Blauen Schürze“ problemlos einsehbar ist, wurde von der Mehrheit der Erbengemeinschaft Otto strikt untersagt. Näheres dazu im Abschlusskapitel „Ausklang“.

[2] Er weist lediglich darauf hin, dass sich Johannes Otto während der Zeit seiner Arbeitslosigkeit nach dem Ersten Weltkrieg zur Polizei gemeldet habe und später dann – „wie die meisten Männer“ – von der SS übernommen worden sei. Vgl. Otto, Schürze, S. 28. Weitere Recherchen zur Person von Johannes Otto – u.a. in den KZ-Gedenkstätten Sachsenhausen und Dachau – blieben bislang erfolglos.

[3] Das KZ Sachsenburg in unmittelbarer Nähe von Chemnitz war eines der ersten, das nach der NS-Machtübernahme eingerichtet wurde. Es war zwar kleiner als spätere KZs wie Buchenwald und Sachsenhausen, hatte jedoch vorbereitende Wirkungen auf die Errichtung der nachfolgenden Konzentrations- und Vernichtungslager. Es wurde Anfang Mai 1933 durch 50 bis 60 Häftlinge, meistens Arbeiterfunktionäre aus Chemnitz, unterhalb des Schlosses Sachsenburg in einer ehemaligen Spinnfabrik errichtet. Die Bewachung erfolgte zunächst durch 25 SA- und SS-Leute. Nachdem KZ-Kommandant Hähnel nach dem Röhm-Putsch festgenommen worden war, wurde Sachsenburg am 13. August 1934 mit wechselnden Kommandanten vom SS-Sonderkommando Sachsen übernommen. Als letzter Kommandant fungierte von April 1935 bis Juli 1937 Bernhard Schmidt. Von 1933 bis 1937 waren hier wohl mehr als 6.000 Regimegegner inhaftiert. Sie mussten unter unmenschlichen Bedingungen schwere, erniedrigende Arbeiten verrichten, so schwerste Arbeit im nahegelegenen Steinbruch und beim Bau von Uferbefestigungen. Als das KZ Sachsenburg am 9. Juli 1937 stillgelegt wurde, verlegte man die Häftlinge bis zum 9. September des Jahres in mehreren Transporten in das neue Konzentrationslager Buchenwald, wo sie beim Aufbau der Anlagen auf dem Ettersberg eingesetzt wurden. Nach unvollständigen Unterlagen, die 1945 im Gemeindeamt Sachsenburg vorlagen, wurden mindestens elf Häftlinge ermordet. Wie viele Menschen infolge der Misshandlungen starben, ist bislang unbekannt. Nach dem Krieg wurde eine Mahn- und Gedenkstätte errichtet. Vgl. https://gedenkstaette-sachsenburg.de/ und https://de.wikipedia.org/wiki/KZ_Sachsenburg (11.10.2017)

[4] Otto, Schürze, S. 13. Das sind im Übrigen genau jene Maximen, die hinsichtlich Jugenderziehung auf den hier präsentierten Schallplatten wiederfinden.

[5] Diese Angaben nach einer schriftlichen Mitteilung von Eike Otto vom 18.10.2017