Die Arbeit der „Zentralstelle“
Zurück ins Jahr 1934. Es dauerte noch einige Zeit, bis sich die im Juni festgelegten neuen Strukturen tatsächlich etabliert und durchgesetzt hatten. Am 11. Juli 1934 umriss die Abteilung III des RMVP in einem hausinternen Schreiben an Abteilung VII die zu jenem Zeitpunkt gängige Praxis: Die einlaufenden Anträge auf Überlassung von Schallplattenmaterial seien bislang so behandelt worden, dass zunächst die RRG zu einer genauen Aufstellung der gewünschten Tonträger aufgefordert worden sei.[1] „Diese Auswahl wurde sodann vom Ministerium – und zwar den Abteilungen 7 und 3 – auf ihre Verwendbarkeit geprüft. Sodann wurden die Platten, wie gewöhnlich, über das Auswärtige Amt zur Einsparung von Transportkosten und Zollgebühren an den Auslandssender versandt.“[2] Zur Vereinfachung des Auswahlverfahrens schlug die Reichssendeleitung dem RMVP sehr bald vor, der Auslands-Organisation der NSDAP in Hamburg für eine einfachere Auswahl das gesamte Katalogmaterial zur Verfügung zu stellen. Zugleich versuchte sie aber auch, die häufig maßlosen Forderungen aus einzelnen Landesgruppen auf ein vertretbares Maß zu reduzieren. Mit Blick auf die oben wiedergegebenen Wünsche der NSDAP-Landesgruppe Brasilien etwa hieß es, dass es „unmöglich“ sei, „5.000 Platten abzugeben, da dies ca. ¼ des gesamten Archivs bedeuten würde“. Man sei in der Lage, jeweils maximal 300 bis 400 Exemplare zum Preis von 2,10 RM pro Stück zu liefern.[3]
Weil für die geplanten „Deutschen Stunden“ aber nicht nur bzw. nicht in erster Linie Sprechplatten mit Reden bekannter NS-Größen, sondern in sehr viel höherem Maße Musikaufnahmen gewünscht wurden, ergab sich ein neues Problem: Musikschallplatten durften seitens der RRG – wohl aus Gründen des Urheberschutzes - nicht geliefert werden, weshalb die Auslands-Abteilung des Lichtbild-Dienstes am 3. August vorschlug, solche Aufnahmen von anderen Firmen, beispielsweise der Electrola, zu beziehen.[4]
Danach klafft in den überlieferten Akten eine Lücke bis Ende September 1934, so dass die konkreten Vorgänge der folgenden Wochen derzeit nicht eindeutig zu rekonstruieren sind. Fest steht jedenfalls, dass nicht die Electrola als Haupthandelspartner zur musikalischen Untermalung der „Deutschen Stunden“ auserkoren wurde, sondern die Deutsche Grammophon mit ihrem Auslandslabel „Polydor“ sowie die Telefunkenplatte. Diese beiden Schallplattenhersteller blieben bis zum Abbruch der Aktenüberlieferung im Juni 1936 die wichtigsten Lieferanten von Musikplatten. Hinzu gesellten sich in Ausnahmefällen noch die Firmen „Tempo-Special“-Schallplattenfabrikation und Patria-Schallplatten Albert Vogt, beide Berlin.
Zwischenzeitlich hatte auch die neue „Zentralstelle“ konkretere Formen angenommen und ihren Platz im Organisationsgefüge des Dritten Reiches gefunden. Am 28. September 1934 richtete deren Leiter Martin ein Schreiben direkt an Propagandaminister Goebbels, dass er noch auf dem Briefpapier des „Fachverbands G – Musik-Instrumenten-Gewerbe der Reichsmusikkammer“ verfasste, dessen Logo mit einem provisorischen Logo der „Zentralstelle“ überstempelt wurde.[5] Als der Organisationsprozess dann zum Jahresende offenbar abgeschlossen war, bekam die Zentralstelle ihr eigenes Briefpapier, das sie jetzt als anscheinend völlig eigenständige Einrichtung auswies; jedenfalls fehlt im Briefkopf jeglicher Verweis auf eine übergeordnete Institution.[6] Zugeordnet war die neue Einrichtung aber weiterhin der Reichsmusikklammer, wo sie nun ausweislich des Organisationsplans unter der Abteilung G „Arbeitsgemeinschaften“ und hier wiederum als Unterabteilung „c“ der „Arbeitsgemeinschaft Musikinstrumentengewerbe“ firmierte.
Auch sonst hatte sich im Bereich der rundfunk- und plattengestützten Auslandspropaganda im Sommer 1934 inhaltlich einiges verändert, was mit hoher Wahrscheinlichkeit ebenfalls mit der Person des Zentralstellen-Leiters Martin zusammenhing. Nachdem der ja bereits im Frühjahr 1934 erste – nicht komplett überlieferte – deutsche „Schallplattenprogramme“ für ausländische Sender zusammengestellt hatte[7], übertrug er dieses Arbeitsprofil nun offenbar auf sein neues Aufgabengebiet, indem er in den folgenden Monaten und Jahren immer neue „Sendeprogramme“ entwickelte. Die setzten sich vorwiegend, aber nicht ausschließlich aus Musikbeiträgen zusammen. Während etwa die „Sendeprogramm Nr. 12“ und „Nr. 13“ vom Oktober 1934 den Hörern ausschließlich musikalische Inhalte zu Gehör brachten[8], wurde im „Sendeprogramm Nr. 11“ vom September 1934, das unter dem Motto „Arbeitsdienst“ stand, von Polizeioberst a.D. Müller-Brandenburg, der als „Arbeitsführer und Amtsleiter in der Reichsleitung des Arbeitsdienstes“ fungierte, eine Ansprache mit dem Titel „Arbeitsdienst im Leben des deutschen Volkes“ gehalten. Die insgesamt zwölf umrahmenden Musikstücke waren sämtlich unter dem Auslandslabel „Polydor“ der Deutschen Grammophon erschienen.[9] Das gesamte Plattenmaterial einschließlich der Ansprache, so Martins abschließender Hinweis, sollte mit der „am 5. Oktober schließenden Briefbeutelpost“ durch das Auswärtige Amt an die Deutsche Gesandtschaft in Montevideo versandt werden.[10]
Die vom dortigen Lokalsender „CX 26“ ausgestrahlte „Deutsche Stunde“ war die erste derartige Sendung unter der gemeinsamen Regie von Zentralstelle und Abteilung IX des RMVP. Mit Stand vom 11. Oktober 1934 hatten sich dann laut „Zentralstelle“ aber bereits die deutschen Vertretungen in neun weiteren südamerikanischen Ländern gemeldet, die unter Nutzung desselben Sendeformats bei insgesamt 17 Sendern eine derartige deutschsprachige Veranstaltung durchführen wollten, die damit kurze Zeit später neben Uruguay auch in Argentinien, Brasilien, Kolumbien, Costa Rica, Nicaragua, Mexico, Ekuador und Chile zu empfangen war.[11]
Es galt also umgehend dafür Sorge zu tragen, dass sämtliche Musik- und Sprachaufnahmen in Form ungezählter Schallplatten[12] schnell, sicher und zielgenau in alle Welt versandt wurden. Das hierzu entwickelte Versandmodell zur Bestreitung „Deutscher Stunden“ sah im November 1934 folgenden Ablauf vor: Die „Zentralstelle“ stellte die Sendungen inhaltlich zusammen, ließ in den Studios der Deutschen Grammophon als notwendig erachtete Wortbeiträge produzieren und bestellte die Musikschallplatten bei der Deutschen Grammophon und – in geringerem Maße – bei der Telefunkenplatte. Die Schallplattenfirmen lieferten die bestellte Ware zum weiteren Versand ins Ausland an die Kurierstelle des Auswärtigen Amtes, während sie sämtliche Rechnungen an das RMVP richteten. Das Auswärtige Amt verschickte die Pakete anschließend an Konsulate und Gesandtschaften im Ausland.[13] Am 2. September 1935 beantragte Friedrich Martin dann eine Vereinfachung des Verfahrens, wonach die Schallplatten künftig „mit direktem Schreiben der Zentralstelle an das Auswärtige Amt durch die Kurierstelle des Auswärtigen Amtes befördert werden“ sollten, während die inhaltlich letztverantwortliche Abteilung IX des RMVP nur noch per Durschlag dieser Schreiben informiert werden sollte, um so Übersicht und Kontrolle in ihrer Verantwortung Hand zu belassen. Sowohl das Auswärtige Amt als auch das RMVP stimmten diesem Vorschlag zu.[14]
[1] Zwei Beispiele für solche Aufstellungen, die Anfang August 1934 von Abt. VII an die RRG gesandt wurden, finden sich in BArch Berlin, R 55/1189, Bl. 54 und 55. Aus ihnen geht auch der Umfang solcher Aufzeichnungen hervor. Die 1. Sitzung des Reichstags nach der NS-Machtübernahme umfasste beispielsweise 32 Platten, die 2. mit der Erklärung zum „Tag von Potsdam“ gar 33 und die „Friedensrede“ von Rudolf Hess 14 Platten.
[2] BArch Berlin, R 55/1189, Bl. 49
[3] BArch Berlin, R 55/1189, Bl. 59
[4] Vgl. BArch Berlin, R 55/1189, Bl. 56
[5] Vgl. BArch Berlin, R 55/1189, Bl. 62
[6] Vgl. BArch Berlin, R 55/1189, Bl. 114
[7] Bislang muss offenbleiben, ob er das aus eigener Entscheidung tat oder ob – und falls ja, von wem – er damit beauftragt worden war. Das früheste erhaltene dieser undatierten „Sendeprogramme“ ist jenes mit der „Nr. 5“ über „Reichsmusikkammer und Volksmusik“. Vgl. BArch Berlin, R 55/1189, Bl. 164
[8] Vgl. BArch Berlin, R 55/1189, Bl. 68f.. Das Motto des Programms Nr. 11 lautete „Das Philharmonische Orchester Berlin und seine Dirigenten“ und wurde mit folgenden Platten aus dem Programm der Deutschen Grammophon bestritten: Teil I: Nr. 66829: Ouvertüre aus „Iphigenie in Aulis“ von Gluck mit Richard Strauß als Dirigenten, 95417/18: „Brandenburgisches Konzert Nr. 3“ von Bach mit Furtwängler, Teil II: 19858: „Jubelouvertüre“ von Weber mit Pfitzner, 66729: „Deutsche Tänze“ von Mozart mit Kleiber, 27271: „Akademische Festouvertüre“ von Brahms mit Fiedler, 67056: „Aufforderung zum Tanz“ von Weber-Berlioz mit Furtwängler, 66705: „Tanz der Lehrbuben“ aus „Die Meistersinger von Nürnberg“ von Wagner mit Knappertbusch und 66935 „Rosamunde“ von Schubert mit Furtwängler. Nr. 13 behandelte „Ernste Musik zu Allerheiligen und Totenfest“ und umfasste folgende Platten der Deutschen Grammophon: Nr. 95149-52: „Credo aus der ‚Missa solemnis‘ von Bach (Bruno Kittel-Chor und Philharmonisches Orchester Berlin, Dirigent: Bruno Kittel), 95290: Sonate C-dur für Orgel und Streichorchester von Mozart (Orgel: Gerhard Bunk), 66935: Air aus der Suite D-dur von Bach (Philharmonisches Orchester Berlin, Dirigent: Furtwängler), 22757: „Ecce quomodo“ von Handl (Chor des städtischen Konservatoriums Dortmund), 95107: Präludium und Fuge D-dur von Bach (Wilhelm Kempff, Piano) sowie „Tristis est anima mea“ von Orlando di Lasso (Münchener Domchor, Leitung: Berberich).
[9] Vgl. BArch Berlin, R 55/1189, Bl. 63. Es handelte sich um: „Märkische Heide, märkischer Sand“ (Marsch, gespielt vom Orchester der SS-Standarte XII, Berlin), „Am Meer“ (Das Meer erglänzte weit hinaus) aus dem Schwanengesang von Schubert, „An Brunnen vor dem Tore” (Der Lindenbaum} aus dem Liederzyklus „Die Winterreise“ von Schubert-Stange gesungen vom Erkschen Männergesangverein, „Bauerntänze“( gespielt vom Tegernseer Instrumentaltrio), „Niedersachsenlied“ von Grothe (Männerchor). Hierauf folge der Vortrag, dem sich dann noch anschlossen: „Das Lied der Bauern“, „Hoch Heidecksburg“ (Marsch von Herzer, gespielt vom Berliner Kammer-Mandolinen-Orchester), „Feierabend“ (Volkslied aus dem Erzgebirge von Güntzer), „Elsässischer Bauerntanz“ (von Merkling, gespielt vom Paul Godwin-Künstlerorchester), „Deutschland, Du darfst nicht untergeben“ (Lied, gesungen von Franz Völker mit Orchesterbegleitung), „Tirol, Tirol, Du bist mein Heimatland“ (Volkslied, gespielt vom Grammophon-Orchester mit Chor) und schließlich „Der Gott, der Eisen wachsen ließ“ (gespielt von der Stahlhelmkapelle mit Gesang).
[10] BArch Berlin, R 55/1189, Bl. 62
[11] Vgl. BArch Berlin, R 55/1189, Bl. 173f.
[12] Man muss sich vor Augen halten, dass auf einer Plattenseite Audioaufnahmen von lediglich 3-4 Minuten Platz fanden, so dass Wortbeiträge von einer Viertelstunde bereits vier Schallplattenseiten erforderten.
[13] Vgl. als Beispiel BArch Berlin, R 55/1189, Bl. 76 und 86 und passim
[14] BArch Berlin, R 55/1190, Bl. 185ff. Abteilung IX des RMVP mit ihrem Referenten Ministerialamtmann Klaus zeichnete im November 1934 für die Bewilligung von Finanzmitteln für die „Zentrastelle“ verantwortlich (vgl. BArch Berlin, R 55/1189, Bl. 103 und 155). Aus den ursprünglich sieben Abteilungen des RMVP wurden bis 1936 zehn, bis 1943 dann sogar 17. 1935 wurde die Abteilung IX („Musik und bildende Kunst“) ins Leben gerufen, die am 10.2.1936 in die Abteilung X („Musik“) überführt wurde. Diese wiederum umfasste als eigenständiges Arbeitsgebiet „Deutsche Musik im Ausland“, das zunächst von Dr. Ernst Ludwig geleitet wurde. (Vgl. Martin Thrun: Führung und Verwaltung. Heinz Drewes als Leiter der Musikabteilung des RMVP (19367-1944); in: Albrecht Riethmüller/Michael Custodis (Hgg.): Die Reichsmusikkammer. Kunst im Bann der Nazi-Diktatur, Köln/Weimar/Wien 2015, S. 101-145, hier S. 104f. und 138) In einem vermutlich im Frühjahr 1937 erstellten Entwurf eines Geschäftsverteilungsplans für die „Musikabteilung X“ war als Referat „X,5“ jenes für „Deutsche Musik im Ausland“ vorgesehen, zu dessen Aufgaben auch „Mitwirkung im ausländischen Rundfunk“ sowie „Archive für ‚Deutsche Sendestunden im Auslande‘ (Grammophonplatten)“ zählten. Nach einer neuerlichen Umorganisation des RMVP umfasste die „Abteilung M“ – wie sie jetzt hieß – acht Referate. „Referat 5“ war unter Leitung von Regierungsrat Rentrop zuständig für „Presseangelegenheiten und Musikpropaganda im In- und Ausland“ (Vgl. ebenda, S. 143f.).