Schallplattenarchive und deren Einsatz „vor Ort“
Wie mehrfach erwähnt, sollte sich der Einsatz der ins Ausland gelieferten Schallplatten nicht ausschließlich auf die Durchführung „Deutscher Stunden“ im Rundfunk beschränken, sondern die Tonträger sollten zudem in „Schallplattenarchive“ aufgenommen und anschließend zur propagandistischen Arbeit vor Ort genutzt werden. Wie das geschehen konnte bzw. sollte, geht unter anderem aus einem Antrag zur „Einrichtung eines Schallpatten-Archivs“ hervor, den die NSDAP-Ortsgruppe im brasilianischen Blumenau im August 1935 an die Zentralstelle richtete. Obwohl der weit im Süden Brasiliens gelegene Ort mit rund 150.000 „Reichsdeutschen“ und „Deutschstämmigen“ eine der stärksten deutschen Kolonien im Land stellte, lagen die nächstgelegenen Schallplattenarchive „mehrere Tagesreisen“ entfernt und waren daher praktisch nicht nutzbar. Das wurde im Sommer 1935 besonders deshalb als schmerzlich empfunden, weil mit dem „Radioclub de Blumenau“ ein Lokalsender im Aufbau begriffen war, in dem nur dann regelmäßige „Deutsche Stunden“ durchgeführt werden könnten, „wenn eine entsprechende Anzahl von Musik- und Sprechschallplatten laufend zur Verfügung“ stünden. Daneben würden die Medien „intensiv“ im Rahmen von „Vereinsveranstaltungen, Veranstaltungen der Ortsgruppe, Stützpunkte und der kleinen Zellen sowie bei der gesamten volksdeutschen Arbeit im Bereich des Konsulats Blumenau“ genutzt. Auf diese Weise ließen sich auch infrastrukturelle Defizite besser ausgleichen: „Die Schallplatten können besonders gute Verwendung in den weit vom Zentrum entfernten Siedlungen finden, da dort ein Radioempfang mangels elektrischen Stroms nicht möglich ist.“ Abschließend wies der Ortsgruppenführer von Blumenau, Kurt Prayon, noch darauf hin, dass die „deutschen Stunden“ in Brasilien gerade dabei seien, „sich durchzusetzen“. Sie würden „als vorzügliches Mittel angesehen, die Kulturarbeit für das Deutschtum im Ausland wirkungsvoll zu unterstützen“. – Wie zu erwarten, wurde dem Antrag statt- und die erforderlichen Mittel vom RMVP freigegeben.[1]
Nachdem der gesamte amerikanische Kontinent mit Übertragungen von „Deutschen Stunden“ weitgehend abgedeckt war, gesellten sich immer neue Interessenten aus anderen Kontinenten hinzu. Anfang Juli 1935 wurde ein Schallplattenarchiv in Südafrika bewilligt und eingerichtet[2], zwei Wochen später folgte Norwegen (Oslo)[3], Anfang August „Batavia“ (Niederländisch-Indien)[4], im Oktober 1935 Kanada (Montreal)[5], Ägypten (Kairo)[6] u.s.w. Am 20. Dezember 1935 etwa regte die AO der NSDAP die Einrichtung eines „kleinen Schallplattenarchivs“ für den NSDAP-Stützpunkt Bagdad an. „Bagdad hat keine Sendestation. Mehrere der hiesigen Parteigenossen haben allerdings Grammophonapparate. Ich wäre dankbar, wenn die Gaufunkstelle [der AO] die Einrichtung eines Schallplattenarchivs zur Bereicherung der Ortsgruppenabende pp. für zweckmäßig halten würde“, was die umgehend tat und die Zentralstelle um Unterstützung bat. Auch die nahm am 7. Januar 1936 positiv Stellung, so dass der Aufbau eines kleinen Archivs am 16. Januar seitens des RMVP (Abt. IX) bewilligt wurde.[7]
Bis zum 20. Mai 1936 wurden seitens der Zentralstelle dann die Schallplattenarchive folgender Botschaften, Generalkonsulaten, Konsulaten und Gesandtschaften regelmäßig mit neuen Tonträgern versorgt: die Botschaften in Buenos Aires, Santiago de Chile, London und Tokio, die Generalkonsulate in Melbourne, Sao Paulo, Montreal, Shanghai, Mailand und Batavia, die Konsulate in Managua, Porto Alegre, Blumenau und Daressalam sowie die Gesandtschaften in Asuncion, Wien, Montevideo, La Paz, Rio de Janeiro, Sofia, Bogota, Quito, Mexico City, Caracas, Bagdad, Teheran[8] und Oslo. Hinzu kamen spätestens im Juni 1936 die Generalkonsulate in New York und San Francisco sowie das Konsulat in Cleveland.[9] Weitere belieferte Orte waren mit hoher Wahrscheinlichkeit u.a. Kairo, Ankara, Oakland, Zürich, Tanunda (Australien) und wohl weitere mehr.[10]
In aller Regel handelte es sich bei den genannten Stellen aber offenbar lediglich um die offiziellen Adressaten, die die über die diplomatische Post des Auswärtigen Amtes verschickten Lieferungen entgegennahmen, um sie dann an die von der Zentralstelle benannten Kontaktpersonen weitergaben. Bei diesen wiederum handelte es sich zumeist um die Repräsentanten der Auslandsorganisationen der NSDAP in den jeweiligen Ländern oder Regionen.[11] Sie bzw. die für sie zuständigen Archive wurden seitens der Zentralstelle mit Schallplatten und Kofferwiedergabegeräten versorgt, während die Lieferungen weiterhin direkt vom Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda finanziert wurde. Im Rahmen einer Begründung einer umfangreichen Schallplattensendung an die Archive wurden die diesbezüglichen Aufgaben der Zentralstelle Anfang September 1939, also vier Tage nach Beginn des Krieges, so beschrieben:
„Als kulturelles Propagandainstrument hat sich in zunehmendem Maße die Schallplatte bewährt. Durch die Zentralstelle für deutsche Kulturfunksendungen im Ausland sind in allen wichtigen Kulturzentren der Welt Schallplattenarchive eingerichtet, die fortlaufend mit neuem Material versorgt werden. Ihr Einsatz erfolgt zur musikalischen Umrahmung der Versammlungen und bei Veranstaltungen künstlerischer Art der auslandsdeutschen Partei- und Volksgenossen, sowie in ‚Deutschen Stunden' mit örtlichen Sendern. Im Laufe des Etatjahres 1938 haben 74 Sender in allen Erdteilen über 7.000 ‚Deutsche Stunden‘ mit diesem Material durchgeführt.
Im Augenblick kommt dieser Auslandswerbung eine noch wesentlich gesteigerte Bedeutung zu, denn durch sie wird 1.) der Zusammenhalt der Volksdeutschen im Ausland gefordert und 2.) die öffentliche Meinung des fremden Volkes beeinflusst. Auf diese Weise ist eine musikalische Propaganda auch in solchen Staaten möglich, die für deutsche Künstler sonst nicht mehr erreichbar sind (Südamerika, Ostasien).
Um diese Archive auf den Höchststand ihrer Leistungsfähigkeit zu bringen und um an Plätzen, die in der gegenwärtigen politischen Situation besonders wichtig sind, noch neue Archive einzurichten, ist es notwendig, die letzten Verkehrsmöglichkeiten (z. B. mit italienischen Dampfern) auszunutzen.“[12]
Offenbar im Rahmen dieser gezielten Auf- und Ausbauarbeit wurden dann im Mai und Juni 1939 auch für die Einrichtung von Schallplattenarchiven in Ankara und Istanbul von der Deutschen Grammophon auf Bestellung der Zentralstelle gezielt rund 200 Platten neu produziert bzw. neu gepresst[13], deren Basisbestand dann durch die Initiative von Gert Otto in den 1970er Jahren ihren Weg zurück nach Deutschland fanden und daher nun hier präsentiert werden können. Über deren Verwendung in Istanbul informiert das folgende Kapitel dieser Präsentation.
[1] BArch Berlin, R 55/1190, Bl. 130f.
[2] Vgl. BArch Berlin, R 55/1190, Bl. 92ff.
[3] Vgl. BArch Berlin, R 55/1190, Bl. 101ff.
[4] Vgl. BArch Berlin, R 55/1190, Bl. 108ff.
[5] Vgl. BArch Berlin, R 55/1190, Bl. 224f.
[6] Vgl. BArch Berlin, R 55/1191, Bl. 26f.
[7] BArch Berlin, R 55/1191, Bl. 93ff.
[8] Die hier während der NS-Zeit archivierten Schallplatten – oder zumindest ein Teil davon – fanden in den 1960er Jahren ihren Weg zurück nach Deutschland, wo sie seitdem im Deutschen Rundfunkarchiv in Frankfurt aufbewahrt werden.
[9] Vgl. BArch Berlin, R 55/1192, Bl. 217f. und 252
[10] Einer im Bundesarchiv, Berlin vorliegenden Liste ist zu entnehmen, dass (ohne Nennung des Zeitpunkts) Archive in folgenden Ländern bzw. Provinzen und Städten eingerichtet worden waren: Abessinien, Ägypten, Argentinien, Australien, Belgien, Bolivien, Brasilien, Bulgarien, China, Costa Rica, Dänemark, Ecuador, Estland, Finnland, Griechenland, Guatemala, Chile, Holland, Irak, Iran, Island, Italien, Japan, Mandschuko, Jugoslawien, Kanada, Kanarische Inseln, Kolumbien, Kuba, Lettland, Litauen, Mexico, Mocambique, Nicaragua, Niederländisch Indien, Norwegen, Panama, Paraguay, Peru, Portugal, Rumänien, Rußland, Schweden, Schweiz, Siam, Slowakei, Spanien, Tanganjika, Teneriffa, Ungarn, Union von Südafrika, Uruguay, USA, Venezuela und Windhuk. Vgl. BArch, R 55/20598. Bl. 3ff.; zitiert nach Vgl. Fetthauer, Grammophon, S. 138
[11] Im Dezember 1938 existierten weltweit nicht weniger als 580 NSDAP-Ortsgruppen in 82 Ländern mit 51.000 Mitgliedern. Vgl. Koop, Kolonne, S. 17. Vgl. auch die Rezension zum Buch von Koop von Kerstin Thieler; in: H-Soz-Kult, 05.02.2010, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-13648>.
[12] BArch Berlin, R 55/20598, Bl. 14f.: Brief der Abteilung Musik (Referent Rosen) an Minister, 4.9.1939; zitiert nach Fetthauer, Grammophon, S. 138f.
[13] Vgl. Firmenarchiv Deutsche Grammophon, Ordner „Aufnahmelisten ‚gn‘ und ‚go‘.