Die „Zentralstelle“ im Zweiten Weltkrieg
Im Laufe des Zweiten Weltkriegs nahmen die seitens der Deutschen Grammophon für die Zentralstelle getätigten Aufnahmen an Zahl immer weiter zu, während die Aufnahmen für den eigenen Firmenkatalog eine zunehmend geringere Rolle spielten. Ab Mitte 1943 führte das Unternehmen schließlich fast nur noch Aufnahmen für die „Zentralstelle für deutsche Kulturfunksendungen im Ausland“ durch, deren genaue Funktion und Organisation während der Kriegsjahre bislang allerdings ebenfalls lediglich in Form spärlicher Hinweise überliefert war.[1]
Das ändert sich durch einen unverhofften Quellenfund im Vereinsarchiv der „Teutonia“ in Istanbul, der hier Abhilfe schafft und aus dem Folgendes hervorgeht: Am 22. September 1941 begann die Zentralstelle wöchentliche „Mitteilungen“ an die von ihr versorgten Schallplattenarchive zu verschicken.[2] Einleitend heißt es in der ersten Nummer: „Es ist beabsichtigt, allwöchentlich einen kurzen Überblick über diejenigen Vorträge zu geben, die jeweilig auf Schallplatten bzw. Folien[3] aufgenommen werden. Da sich die genannten Vorträge zum Teil auf Gedenktage der näheren Zukunft beziehen, empfiehlt es sich, diese Übersicht sorgfältig aufzubewahren und jeweilig bei Eintreffen der Folie bzw. Schallplatte die entsprechenden Übersichtspläne durchzusehen.“
Den Jahres- und Gedenktagen wurde für die Gestaltung der „Kulturfunksendungen“ gerade auch im Ausland also eine erhebliche Bedeutung beigemessen, die Zentralstellen-Leiter Martin in einem (undatierten) Papier über „Bedeutung und Einsatz der Jahrestage“ während des Krieges zusammenfasste:[4] „Es ist gegenwärtig besonders verantwortungsvoll, deutsche Kulturpolitik im Ausland zu machen.“ Gerade Beiträge anlässlich von Jahrestagen seien hierfür außerordentlich gut geeignet, ohne durch solche Sendungen zugleich „den Anschein verdächtiger Propaganda“ zu wecken. Dabei dürfe jedoch keinesfalls der Eindruck entstehen, „als solle etwa durch die Betonung der deutschen Sprache oder der deutschen Wissenschaft in anderen Ländern irgendwelchen imperialistischen Zielen Deutschlands Vorschub geleistet werden“. Daher wurde den Verantwortlichen des deutschen Auslandsrundfunks geraten, auch die Leistungen ausländischer Künstler und Wissenschaftler anzuerkennen und „objektiv“ darzustellen, um „im Anschluss daran allerdings nach Möglichkeit den Wandel in der allgemeinen Gültigkeit solcher Ideen aufzuzeigen, der sich dann häufig auf deutsche Vorbilder gründen“ werde.
Als aussagekräftiges Beispiel wurde der Gedenktag der Ermordung Marats im Jahr 1793 genannt, das nicht als singuläres Ereignis zu präsentieren, sondern in einen größeren Zusammenhang zu stellen sei. „Die Begebenheit muss aus der Sphäre des privaten und nationalen französischen Kitsches herausgehoben und dafür in ihre wahren politischen Zusammenhänge gesetzt werden.“ Diese wurden klar vorgegeben: „In diesem Falle wäre zum Beispiel zu schildern, wie aus einer das Individuum verherrlichenden Staats- und Gesellschaftsauffassung schon während der französischen Revolution ein Kampf aller gegen alle geworden ist, wie der individualistische Gedanke nicht nur das französische Volk durchdrang, sondern ganz Europa in Unruhe und Revolution versetzte, also ein Giftstoff war, der heute im Bolschewismus in größerem Umfange die Völker der Erde verseuchen und vernichten will.“
Die Verantwortlichen der im Ausland angelegten Schallplattenarchive wurden zu einer intensiveren Auswertung der seitens der Zentralstelle vorgegebenen Jahrestagslisten[5] aufgefordert, um nicht zuletzt auf deren Grundlage anschließend die entsprechenden Beiträge auf Schallplatten in Berlin anzufordern. Weil auch sämtliche Mitarbeiter der Zentralstelle nunmehr verpflichtet seien, nach den in dem Papier festgelegten Grundsätzen zu richten, so machte das Grundsatzpapier deutlich, sei künftig „ein richtiger propagandistischer Einsatz“ dieser Materialien gesichert.
Die Anzahl der wöchentlich produzierten und in den „Mitteilungen mit Titel und kurzer Inhaltsangabe Woche für Woche akribisch aufgelisteten Sendungen bewegte sich zumeist in einer Größenordnung von sieben bis zwölf Produktionen mit einer Länge zwischen vier und acht, durchaus aber auch bis zu 15 Minuten. Unter ihnen befand sich stets eine erhebliche Zahl an Produktionen, die nur in einzelnen Landessprachen zur Verfügung gestellt wurden.[6] Insgesamt wurde versucht, ein möglichst breites Themenspektrum abzubilden, wobei unverkennbar aber der Propagandagedanke dominierte und antisowjetische und gegen weitere Kriegsgegner gerichtete Beiträge im Mittelpunkt standen.
Auf diese Art und Weise kamen jährlich rund 400 Neuproduktionen auf Schallplatten und/oder Folien zustande. Diese erhebliche Zahl erklärt, warum sich die rege Tätigkeit der Zentralstelle für die Deutsche Grammophon zu einem lukrativen Geschäft entwickelte, das die übrige Plattenproduktion ab Herbst 1941 in den Hintergrund drängte. Denn das seit diesem Zeitpunkt augenscheinlich nochmals deutlich erhöhte Engagement von Zentralstellen-Leiter Martin zeitigte offenbar erhebliche Erfolge. Jedenfalls kündigte er bereits Mitte Juni 1942 einen unmittelbar bevorstehenden „weiteren Ausbau der Schallplattenarchive“ an.[7]
Gerade durch den Kriegsbeginn sah die Zentralstelle ihr Tätigkeitsfeld also inhaltlich wie geografisch erheblich ausgeweitet und verschickte zu Propagandazwecken weltweit immer mehr Schallplatten. So lässt sich beispielsweise bereits für den September 1939 eine derartige Versandaktion im Wert von 70.000 RM nachweisen.[8] Im Laufe des Weltkriegs setzte sich dieser Trend dann offensichtlich parallel zur Ausdehnung der Kriegsschauplätze kontinuierlich fort und veränderte und erweiterte die Aufgaben der Einrichtung..[9] Diese Modifikationen, so mutmaßt Sophie Fetthauer, hätten wahrscheinlich im Zusammenhang mit der „Aktivierung der allgemeinen Schallplattenarbeit“ - vor allem in Form von Schallplattenarchiven - im Hauptamt Rundfunk gestanden. Daher sei die Einrichtung im Februar 1942 auch in „Zentralstelle für Informationsbibliotheken und Schallplattenarchive“ umbenannt worden.[10] Es sei nun nicht mehr um sogenannte „sanfte“ Propaganda gegangen, sondern um eine kriegsbedingt weitaus direktere Form der versuchten Beeinflussung. Die Schallplatten, die die Deutsche Grammophon für die Zentralstelle weiterhin aufnahm, seien nunmehr nämlich zunehmend zur Verbreitung von Nazi-Propaganda mittels Rundfunk oder auch mittels Plattenspielern und Lautsprecherwagen vor Ort im Rahmen der „Arbeiter-“ und „Truppenbetreuung“, „Hilfswilligen-“ und „Arbeiterwerbung“ sowie der „Partisanenbekämpfung“ eingesetzt worden.[11] Diese Annahme kann auf der Grundlage der „Mitteilungen“ der Zentralstelle nun einer weitaus fundierten Analyse unterzogen werden.[12]
Einen bedeutenden Teil der Aufnahmen für die nun umbenannte „Zentralstelle“ machten in jedem Fall – wenn auch mit gewandelten Intentionen und Zielgruppen - weiterhin propagandistische Sprachaufnahmen aus, die nunmehr häufig in verschiedenen Sprachen aufgenommen wurden. Sowohl die Protokolle der Deutschen Grammophon als auch die weitaus ausführlicheren Inhalte der „Mitteilungen“ verzeichnen außer den deutschen Aufnahmen Einspielungen in zwanzig weiteren Sprachen: Bulgarisch, Dänisch, Estnisch, Finnisch, Flämisch, Französisch, Griechisch, Holländisch, Italienisch, Kroatisch, Lettisch, Portugiesisch, Rumänisch, Schwedisch, Serbisch, Slowakisch, Spanisch, Ukrainisch, Ungarisch und Weißruthenisch. Die Titel der Texte geben einen Hinweis auf die modifizierte inhaltliche Spannbreite der Aufnahmen: Zwischen Berichten über verschiedene kulturelle Belange auf der einen Seite und antijüdischer sowie antibolschewistischer Propaganda auf der anderen Seite war das ganze mögliche Spektrum vertreten.[13]
Es gab daneben aber auch weiterhin neben einigen inhaltlich nicht näher spezifizierten Interviews sowie Kultur- und PK-Berichten Aufnahmen, die Themen aus den Bereichen Arbeitsdienst, Kultur, Sport, Medizin, Landwirtschaft und Ernährung sowie Fragen zur Situation von Frauen und Kindern behandelten. Hinzu kamen Produktionen zu einzelnen Ländern und Städten - vor allem im asiatischen Raum -, einzelnen Kriegsereignissen und Personen. Weitere Aufnahmen thematisierten Aspekte der NS-Ideologie. Die Titel solcher Aufnahmen lauteten zum Beispiel „Das deutsche Nationalgefühl“, „Das Gesicht des neuen Europa“ oder „Der neue Mensch im neuen Europa“.[14]
Der Schwerpunkt des Schallplatteneinsatzes lag nunmehr aber eindeutig auf kriegszentrierten Effekten, die sich die Verantwortlichen von ihm versprachen. So wurde auch in einer gedruckten Auflistung von diesbezüglich eingesetzten Schallplatten aus dem Jahr 1942 ausdrücklich betont, dass die in den Ostgebieten eingesetzten „Politischen Sprechplatten“ für die „Arbeiterwerbung“, „Hilfswilligenwerbung“ und „Partisanenbekämpfung“ bestimmt waren.[15]
Im April 1943 wurde aus Sicht des Propagandaministeriums schließlich Folgendes über die Zweckbestimmung und die Machart der in den Ostgebieten eingesetzten Propaganda-Tonträger festgehalten: „Zur Benutzung durch die Lautsprecherwagen, Drahtfunkanlagen, Grammophone und Plattenspieler, die von den zivilen und militärischen Propaganda-Abteilungen im Osten eingesetzt werden, haben wir eine Reihe von Schallplatten hergestellt. Die Übertragung von Musik wird bei jeder Propaganda-Veranstaltung - bei Versammlungen, Übertragungen der Nachrichten u.ä. - zur Auflockerung verwandt und ist nach Äußerungen aller im Osten eingesetzten Propagandisten völlig unentbehrlich. Dies gilt insbesondere von den Gesangsplatten. Bei ihrer Herstellung wurden Lieder bevorzugt, die unter dem bolschewistischen Regime verboten waren. Soweit die Melodien als solche von den Bolschewisten aufgegriffen und mit neuen Texten unterlegt worden waren, sind die alten Texte wieder verwandt worden. Bei einer weiteren Gruppe von Platten ist sehr beliebten Melodien, die unter dem bolschewistischen Regime entstanden sind, ein völlig neuer Text mit antibolschewistischer Tendenz unterlegt worden. Darüber hinaus sind eine Reihe von politischen Sprechplatten hergestellt worden. Sie enthalten Texte, die von den im Kampf gegen die Partisanen eingesetzten Propaganda-Kommandos in der Lautwagenpropaganda benutzt werden, die Partisanen zum Überlaufen und die Bevölkerung zum Widerstand gegen die Partisanen auffordern. Weiterhin haben die Dienststellen von Gauleiter Sauckel dringend um weiteren Einsatz von Werbeplatten zur Ostarbeiterwerbung gebeten, die dementsprechend auch von den Propaganda-Abteilungen im größten Maße eingesetzt werden. Es hat sich herausgestellt, dass diese Platten - in Lautwagen verwandt - die freiwilligen Meldungen von Ostarbeitern zur Arbeit im Reich schneller erreichen als jedes Flugblatt oder jeder Zeitungsartikel. Dasselbe gilt für die Platten, die für Werbung von Hilfswilligen für die deutsche Wehrmacht eingesetzt worden sind.
Es ist beabsichtigt, dieses Programm fortzuführen, indem weitere Aufnahmen in der gleichen politischen Linie vorgenommen werden. Für die Herstellung von etwa 150 Platten in Auflagen von 83.680 Stück bei der dem Ministerium angegliederten Zentralstelle für Informationsbibliotheken und Schallplattenarchive wird zunächst ein weiterer Betrag von RM 135 000,-- benötigt.“[16]
All das hatte nichts mehr gemein mit den ursprünglichen Absichten, die die „Zentralstelle für deutsche Kulturfunksendungen im Ausland“ zu Beginn ihrer Tätigkeit im Jahr 1934 verfolgt hatte. Zwar produzierte man weiter Schallplatten für den Einsatz im Ausland, doch hatten sich sowohl Zielgruppen als auch Intentionen grundlegend gewandelt.
[1] Vgl. Fetthauer, Grammophon, S. 137f. Fetthauer weist ausdrücklich darauf hin, dass über die genaue Funktion und Organisation der „Zentralstelle“ bislang wenig bekannt sei.
[2] Diese Mitteilungen werden für den Zeitraum vom 22.9.1941 bis zum 18.10.1943 (Nr. 1 bis Nr. 102) mit wenigen Lücken im „Archiv Club Teutonia – Istanbul“ unter den Nummern 16.555 bis 16.815 aufbewahrt und wurden von der Vereinsarchivarin Beate Kretzschmann nicht nur zur Verfügung gestellt, sondern höchstselbst kopiert. Dafür einen herzlichen Dank.
[3] Auf Schallplatten wurden offenbar die meisten Beiträge in deutscher Sprache gepresst und anschließend an die Archive im Ausland verschickt, während die Übersetzungen in den jeweiligen Landesprachen auf den weniger haltbaren Folien zur Verfügung gestellt wurden. Weiter hieß es: „Die Schwarzplatten sind sorgfältig zu behandeln, da sie im Rahmen der Deutschen Stunden und der sonstigen Veranstaltungen für Deutschsprechende immer wieder Verwendung finden sollen.“ Vgl. „Mitteilungen Nr. 3“ vom 6.10.1941
[4] Das Folgende nach Vereinsarchiv Teutonia, Nr. 16605f.: Bedeutung und Einsatz der Jahrestage. Aus dem Kontext ergibt sich, dass das Papier wahrscheinlich auf die erste Jahreshälfte 1943 zu datieren ist.
[5] Diese Listen (eine jahreskurze übergreifende Aufstellung der „reichswichtigen Gedenktage“ sowie umfangreiche monatliche Zusammenstellungen) sind für das Jahr 1943 ebenfalls im Archiv der Teutonia in Istanbul überliefert.
[6] Hierbei zeigte sich die „Zentralstelle“ sehr flexibel. Im Oktober 1942 teilte sie den Schallplattenarchive mit, dass auf Anforderung „jederzeit“ Aufnahmen von vorliegenden Beiträgen in jeder gewünschten Sprache produziert und versandt werden könnten. „Diejenigen Archivleiter, die für den einen oder anderen Vortrag, der nicht in der betreffenden Landessprache aufgenommen wurde, eine Einsatzmöglichkeit haben, wollen dies jeweils umgehend melden.“ Archiv der Teutonia: „Mitteilungsblatt 54“, 12.10.1942
[7] „Mitteilungen Nr. 37“ vom 15.6.1942
[8] Vgl. Fetthauer, Grammophon, S. 141. Hieran war neben der Deutschen Grammophon nach wie vor auch die Telefunken-Schallplatte mit Schallplatten und Kofferwiedergabegeräten beteiligt.(Vgl. hierzu die von beiden Unternehmen ausgestellten Rechnungen in BArch Berlin, R 55/20598. Bl. 21-301.)
[9] Das schlug sich auch in einem deutlichen Personalanstieg nieder. Laut Wolfram Werner betrug die Zahl der Mitarbeiter der „Zentralstelle für Informationsbibliotheken und Schallplattenarchive“ zunächst lediglich 6, um dann bis zum Jahr 1943 auf 117 steil anzusteigen. Die komplette Überlieferung der Einrichtung gilt als verschollen. Vgl. Findbücher zu Beständen des Bundesarchivs. Band 15: Bestand R 55, S. XXVII
[10] Folgt man den Absenderangaben der „Mitteilungen“, erfolgte die Umbenennung von „Zentrastelle für Deutsche Kulturfunksendungen im Ausland“ in „Zentrastelle für Informations-Bibliotheken und Schallplattenarchive“ zwischen dem 29.1. und dem 5.2.1942.
[11] Vgl. Fetthauer, Grammophon, S. 141f.
[12] Die hierzu notwendigen Digitalisate der „Mitteilungen“ können – nach Genehmigung durch den Vorstand der „Teutonia“ – seitens des NS-Dokumentationszentrums der Stadt Köln gern zur Verfügung gestellt werden.
[13] Vgl. Fetthauer, Grammophon, S. 147
[14] Vgl. Fetthauer, Grammophon, S. 148
[15] BArch Berlin, R 55/1359, Bl. 27-29. Vgl. hierzu Fetthauer, Grammophon, S. 144
[16] BArch Berlin, R 55/1359, Bl. 10f.: Schreiben des Leiters Ost, Ref. Gielen an RMVP, 20.4.1943, zitiert nach Fetthauer, Grammophon, S. 144f.