Neues Bild der Eltern? - „So kannte ich sie halt nicht.“

Beim Lesen ihrer Briefe fühlte sich Stefanie Endemann ihrer Mutter oft sehr nah. Einige Male, so erzählt sie, habe sie sogar geglaubt, deren ihr so wohlvertraute Stimme zu hören, weil die in den Briefen benutzten Wendungen „so typisch Lotti“ gewesen seien.

Ganz besonders wichtig sei aber gewesen, dass sie durch die Lektüre die Mutter „noch ganz anders kennengelernt habe“. Als 1950 geborenes „Nesthäkchen“ habe sie ihre zu diesem Zeitpunkt weit über 40 Jahre alte Mutter als vielfach erschöpfte und überlastete Frau erlebt. Die „bewundernswerte Spannkraft“, die bis zum Kriegsende in ihren Briefen zum Ausdruck kommt, blieb ihr daher lange Zeit verborgen. „So kannte ich sie halt nicht.“ Alles das, was Charlotte Endemann während des Krieges und in den ersten Nachkriegsjahren durchlebt und durchlitten habe, sei ihr eben „nicht in den Kleidern hängen geblieben“ und habe offenbar sehr viel Kraft gekostet.

Entsprechende Wandlungen gab es auch bei Harald Endemann, sie fielen allerdings nicht so substanziell aus. Auch aus seinen Briefen spricht zwar ein tatkräftiger, vitaler Mann, jedoch zeichneten sich darin mit seinem Zaudern und dem typischen Verschieben von Entscheidungen zugleich bereits jene Charakterzüge Ihres Vaters ab, die dessen Verhalten auch in späteren Jahren gekennzeichnet hätten. Das gelte andererseits und ganz besonders auch für seine unbedingte, von den Kindern als überaus angenehm empfundene Orientierung auf seine Familie.

So wurde die intensive Arbeit an der Transkription der Briefe von einem Auf und Ab der Gefühle begleitet. Hierzu befragt, antwortete Stefanie Endemann bei anderer Gelegenheit: „Die Arbeit an den Briefen, so zähflüssig sie ist, ist für mich eine Annäherung an meinen Vater, aber auch eine Zeitreise. Manches bringt mich meinem Vater näher, manches befremdet doch sehr.“

 

Klaus Endemann, der gemeinsam mit Schwester Stefanie die Edition der „Mutter-Briefe“ federführend vorantrieb, betont, dass seine Erinnerung an die Eltern in ihrer Gesamtheit „von einer tiefen Dankbarkeit für eine wunderbare Kindheit unter ihrem Schutz“ dominiert werde. Den durch die Lektüre der Briefe Jahrzehnte später wiederbelebten „Blick in die ersten Jahre der Ehe meiner Eltern, weit zurück bis in die eigene frühe Kindheit“ empfindet er als „bewegend“: „Als Vier- oder Achtjähriger hatte ich für die schweren Sorgen des täglichen Lebens, für die Bedrückung durch die Gesellschaft oder auch familieninterne Probleme noch keine Antenne. Die Liebe zwischen den Eltern und ihr gegenseitiges Vertrauen haben für mich nie das Gefühl von Unsicherheit aufkommen lassen. Heute sind besonders die Briefe der Mutter für mich ein bewegendes persönliches Zeugnis; ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass ich die Mutter, die ich doch so gut zu kennen meinte, hier noch einmal als einen ganz anderen, in anderer Weise liebevollen Menschen erlebe. In der Rückschau weiß ich, wie sehr meine eigene Lebensführung durch ihr Vorbild, ihre moralische Integrität, aber auch ihre Leidensfähigkeit und Leidensüberwindung bestimmt ist.“

Das Eintauchen in die eigene Vergangenheit wurde bei ihm durch die Auseinandersetzung mit den Briefen oftmals erst ermöglicht, in jedem Fall aber erleichtert und erheblich intensiviert. „Die Briefe der Mutter rufen Ereignisse, Begebenheiten und Personen punktuell in Erinnerung, die mir vielfach noch so präsent sind, als sei alles eben erst vergangen. Anderes wiederum erkenne ich nur noch wie durch einen Nebel, unscharf, ohne Gesichter, sodass ich ohne das Zeugnis der Briefe unsicher wäre, ob das Erinnerung ist, oder ob fremde Bilder die eigene Erfahrung überlagern. Die Daten der Briefe erlauben mir, die vage Erinnerung chronologisch genau zu ordnen.“ Durch die Selbstzeugnisse der Mutter, so betont Klaus Endemann, sei ihm rückblickend ein besseres Verstehen ermöglicht worden. „Als Kind habe ich die Nöte, die verzweifelte Lage der Mutter in ihrer Tragik nicht begreifen können, z. B. als zwei meiner Schwestern weit entfernt ins Hessische evakuiert wurden, unsicher, ob und wie wir sie wiedersehen würden.“