Kurt Diederich: Briefe aus und in die Kinderlandverschickung

„Bei seinem Besuch in Köln sah ich gemeinsam mit meinem Vater auf dem Rudolfplatz Hitler vorbeifahren, und auf dem gleichen Platz später an der Haltestelle erstmals Mitbürger mit dem gelben Stern.“ – Wer sich hier erinnerte, war der am 17. August 1931 geborene Kurt Diederich, der seine Kindheit in Köln-Müngersdorf, genauer in der Umgebung seines an der Ecke Aachener Straße und Militärring gelegenen Elternhauses verbrachte.

Den Hitler-Besuch – wahrscheinlich im März 1938 – erlebte er als Sechsjähriger, der seine gesamte Umwelt vorwiegend in Form von Uniformen und Militarismus wahrnahm: „Das Straßenbild war vorwiegend von Militärfahrzeugen geprägt, die Aachener Straße war wichtige Verkehrsader gegen Westen: Zuerst der Bau des Westwalls, dann später die Westfront. Das war von Kind an unsere ‚Ecke’.“ Und: „Wer Soldat war, trug selbstverständlich draußen Uniform, und es gab kaum etwas Militärisches, was nicht auch als Spielzeug vorhanden war.“ Ohnehin sei man damals „von vielen Erziehungsmerkmalen im ganzen Lebensumfeld“ von Kindesbeinen an „in die damalige Weltanschauung einbezogen“ worden: „Der Schulunterricht begann mit dem gemeinsamen Hitlergruß, auf der Straße wusste man schon, wen man mit ‚Heil Hitler’ grüßen musste.“

„Dann kam der Tag, an dem man zum Jungvolk musste.“ Für Kurt Diederich kam er im Jahr 1941, und von diesem Zeitpunkt an trat die Hitlerjugend in seinen rückblickenden Worten als „Erzieher im Sinne der herrschenden Ideologie“ neben die Instanzen „Eltern“ und „Schule“. „Die unter dem Führerprinzip stehende Hierarchie erzeugte Ehrgeiz mancherlei Art, auch einmal so eine Schulterschnur zu tragen oder nur Trommler zu sein.“

Mit dem Krieg kamen alsbald die nächtlichen Luftangriffe, „Bomben, Brände und Tote wurden Bestandteil der Tag- und Nachterlebnisse“ auch der Heranwachsenden, die so „zu kleinen Kriegsteilnehmern“ geformt wurden, in denen sich, so räumt Kurt Diederich ein, Hass gegen jene aufbaute, „die am Himmel Unheil bringend über uns hinwegrauschten“. Zunächst jedoch war der gerade Zehnjährige vom imposanten Schauspiel der Flakscheinwerfer und Flakfeuer fasziniert und beteiligte sich intensiv am allgemein verbreiteten Spiel des Granat- und Bombensplittersammelns.

Ständig gestörte Nachtruhe mit anschließendem Schulunterricht, heftiger werdende Angriffe und wachsende Angst ließen aber auch im Hause Diederich die Bereitschaft wachsen, den ältesten Sohn – mittlerweile Schüler am Schillergymnasium – 1943 zur KLV anzumelden. Das galt umso mehr, als sich die Familienverhältnisse kriegsbedingt verkompliziert hatten. Der Vater war als (Hilfs-) Polizist – unter anderem bewachte er Häftlinge aus dem Messelager in Köln-Deutz - kaserniert worden und konnte somit nicht mehr aktiv zur Haushaltsführung beitragen. Die lag nun allein in Händen der Mutter, die neben Kurt noch dessen siebenjährigen Bruder und die einjährige Schwester zu betreuen und zu versorgen hatte. Daher nahm man im April das Angebot der Schule an, eine ganze Klasse mit zwei Lehrern ins Sudetenland zu verschicken. Die Fahrt begann am 8. Mai 1943 in Köln-Deutz und führte – wie häufig in der KLV – erst über Umwege ins Lager nach Rockitnitz im Adlergebirge.

An diesem Punkt setzt der hier einsehbare Briefwechsel zwischen Kurt Diederich und seiner Familie ein, aus dem Vielerlei hervorgeht. Zunächst einmal traf Köln recht bald nach seiner Abreise die vernichtende Welle der Großangriffe von Ende Juni und Anfang Juli 1943, deren Folgen dem Zwölfjährigen brieflich zwar möglichst schonend und in angemessener Sprache, gleichzeitig aber durchaus offen geschildert wurden. Außerdem erfuhr er auf diesem Wege von der in privater Initiative betriebenen Evakuierung von Mutter und Geschwistern, wodurch die Familie nun vollends zerrissen war. Außerdem ist der Briefwechsel ein Beleg für die zumeist deutlich gegenläufigen Versuche von Seiten der Eltern und der Hitlerjugend, die KLV-Lagerinsassen zu beeinflussen. Während die Reichsjugendführung und die NSDAP alles daran setzten, die Kinder länger in den Lagern zu halten, um die Folgen der Angriffe in Köln selbst besser auffangen zu können – deutlichster Beleg hierfür ist der vom Lagermannschaftsführer diktierte Brief vom 22. Oktober -, versuchten die Eltern ihrerseits, Kurt auf eine baldige Rückkehr einzuschwören. Aber auch sonst wurden die Kinder allem Anschein nach angehalten, ihren Eltern häufiger die Unwahrheit zu schreiben. Als das Lager Ende Oktober 1943 etwa für eine Woche wegen Wanzenbefalls evakuiert und in ein provisorisches Notquartier verlegt werden musste, wurde die Anweisung erteilt, dies in Briefen mit einer notwendigen „Renovierung“ und dem Umbau der Zentralheizung zu begründen.

Kurt fühlte sich im Lager recht wohl, was offenbar nicht zuletzt mit den Künsten des tschechischen Kochs - vor allem dessen Knödelvariationen - zusammenhing. Andererseits begann aber auch das Heimweh an ihm zu nagen, was er jedoch nicht nach Hause mitteilte. Als sich die Gefahr einer unbegrenzten Verlängerung des KLV-Aufenthalts ihres Sohnes verdichtete, ergriffen seine Eltern aber auch ohne einen solchen Anstoß die Initiative. Kurt und zwei Mitschüler wurden im November 1943 von einem befreundeten Elternpaar kurzerhand in Rockitnitz abgeholt und nach Köln zurückgebracht. Hier erlebte der Heranwachsende dann die Schrecken und Unwägbarkeiten des Bombenkrieges aus sehr direkter Anschauung, wobei aber alle Zerstörungen und Gefahren seine Eltern nicht mehr veranlassen konnten, ihren Sohn nochmals an die KLV abzugeben.

Rückblickend fasste Kurt Diederich die Zeit bis zum Kriegsende so zusammen: „In Köln war alles viel schlimmer geworden. Tag und Nacht gab es Alarm. Oft mehrmals rund um die Uhr. Die Schillerschule war ein Trümmerhaufen, und ich kam als Gastschüler in das Friedrich-Wilhelm-Gymnasium nach Ehrenfeld in die Gravenreuthstraße. Hier wurden wir dann Stammgäste im Hochbunker Körnerstraße. Als es hier hieß, ab in ein KLV-Lager, musste ich in die Schule in der Lotharstraße nach Sülz. Der zuständige Hochbunker war nicht weit. Dann brach alles zusammen, und nach einem der schwersten Angriffe im Oktober 1944 flüchteten wir per Anhalter nach Solingen-Höhscheid in eine freie Wohnung entfernter Verwandter. Hier war noch keine Bombe gefallen. Drei Tage nach unserer Ankunft war Solingen zwei so genannten ‚Vernichtungsangriffen’ ausgeliefert - und das am helllichten Tag. Ich stand auf der Straße und sah, wie die abgeworfenen Bomben über der einige Kilometer entfernten Stadt im Sonnenlicht wie Funken aussahen. Hier erlebte ich dann auch die Ankunft unserer Feinde, es war dann der letzte große Moment einer Kriegsangst vor dem Unbekannten.“

Eine Episode verfolgte Kurt Diederich bis ans Lebensende, zumindest erinnerte er sie sehr plastisch: „Ich befand mich vor unserem Haus, als ein für mich damals alter Mann in langem schwarzen Mantel und einem Koffer stehen blieb und mich nach dem Weg fragte. Er wollte zum Kämpchensweg oder jedenfalls in diese Gegend. Da man einen alten Mann keinen Koffer schleppen ließ, bot ich mich an, ihn zu begleiten und trug ihm seinen Koffer. Er erzählte mir dann auf diesem gemeinsamen Weg, dass man tags vorher seine Frau abgeholt hätte, und er sich heute in der erwähnten Gegend melden müsse. Als wir dann den Kämpchensweg erreichten, auf dessen nicht bebauter Seite der Grüngürtel begann, sah ich in nicht weiter Entfernung auf einem der ins Grüne führenden Wege Uniformierte stehen. Auch der alte Mann hatte sie ausgemacht und bat mich, nun zurückzugehen, nachdem er sich sehr für meine Hilfe bedankt hatte. Mir war damals überhaupt nicht bewusst, was ich da erlebt hatte.“ – Der ahnungslose „Pimpf“ Kurt Diederich hatte einem vermutlich kurz vor der Deportation stehendem Kölner Juden den Koffer bis zum Lager am Müngersdorfer Fort V getragen!

Alle Mitglieder der Familie Diederich überlebten den Krieg und fanden alsbald wieder zusammen. Kurt wurde später ein erfolgreicher Unternehmer und baute in Köln eine Immobilienverwaltungsfirma auf. Er starb überraschend im Jahr 2003. Posthum sei ihm hier für seine Kooperation und stete Hilfsbereitschaft gedankt.

Die Briefe stellte er damals zur Reproduktion zur Verfügung. Das geschah zeittypisch durch einfache schwarz-weiß-Kopien. Aufgrund seines überraschenden Todes waren seine Briefe später nicht mehr zugänglich, um sie zu scannen. Daher können hier neben der Transkription lediglich die Fotokopien präsentiert werden. Sie werden im NS-Dokumentationszentrum im Bestand „KLV“ aufbewahrt.