Marga Ortmann an August Broil, 20. Mai 1943
32. Köln, den 20. Mai 43.
Du, mein lieber August!
Es ist doch schön, daß wir in unserer Sprache einen Unterschied machen in der Anrede; im allgemeinen sagen wir Sie, und nur zu denen, die uns besonders nahe stehen, die uns verbunden sind durch die Bande des Blutes, des Geistes und der Liebe, sagen wir das vertraute Du. Ich meine, wir könnten nicht vorsichtig genug mit diese Anrede umgehen, damit sie wirklich etwas besonderes, eine Ausnahme und Bevorzugung bleibt. Mir ist die Bedeutung des Du-Sagens eigentlich erst aufgegangen, seit ich zu Dir so ganz bewußt Du gesagt habe und ich möchte wünschen, es nur zu Dir sagen zu können und sonst keinem mehr. Wenn ich zu Dir „Du“ sage, dann liegt in diesem kleinen Wort – lausche einmal auf seinen Klang – die ganze Höhe und Tiefe, das volle Glück unseres Zueinanders; denn indem ich es Dir sage, bezeichne ich Dich als „das Du“, das meinem Ich in besonderer Weise zugeeignet ist. Du und ich – spürst Du etwas von der ganzen Spannung des Gegenüberstehens der beiden Pole? Ich kann Dir garnicht sagen wie es in mich eingegangen ist, als Du auf dem Weg nach der stillen, und für uns beide so entscheidenden Stunde an der Universität leise zu mir sagtest, es war wie ein Stammeln: Du, Marga! Es war mir, als hättest Du damit mein letztes Ich, mein eigentliches Sein, das ich bis dahin vor allen krampfhaft
zu verbergen suchte, angerufen. Ja, und durch diesen Anruf hat es sich entfaltet und will sich nun immer mehr öffnen zu Dir hin, um einmal in einem gemeinsamen Leben Dir das zweite Ich zu werden, die Ergänzung und Erfüllung des Deinen. Daß uns das gelingen möchte, das ist mein inniger Wunsch und mein tägliches Gebet zum Herrn. Mir ist es manchmal noch ganz unbegreiflich, daß meinem Leben nun ein ganz neues, so unerwartetes Ziel gesetzt ist. Freilich das Endziel bleibt das gleiche, nähmlich Gott, aber der Weg dorthin, der mir nun so klar gewiesen ist, ist so anders als ich ihn mir bis jetzt gedacht und gewünscht hatte. Aber es ist eine große Freude in mir und die feste Zuversicht, daß der erkannte Weg der rechte und einzig mögliche ist: der Weg von der Abgegrenztheit des Ich in die größere Weite des Du, der hineinmündet in ein großes, heiliges, unauflösliches Einswerden, in dem wir einst, wenn wir am Ziele sind, als „der Mensch“ vor dem Schöpfer stehen werden.
Mein lieber August, es ist Abend geworden. Die Arbeit des Tages hat mich müde gemacht, doch das abendliche Waschen macht Körper und Geist wieder frisch. Dann hab ich eine Weile am Fenster gestanden, der kühle Hauch tut so gut nach der Hitze des Tages und der Blick geht in Weiten, die uns sonst verschlossen scheinen. In wolkenloser Klarheit wölbt sich der Himmelsdom über der schlafenden Erde, nur am Horizont sind noch einige rötlich graue Nebel-
streifen sichtbar. Wie verloren im All leuchtet hier und da ein Stern auf. Senkt sich nicht mit jeder Nacht die erbarmende, verzeihende, erlösende Liebe des Vaters über die friedlose Welt? Wenn in mir die Hast des Tages verklungen ist und die Stille solch einer abendlichen Stunde mich ganz erfüllt, dann kann ich bald nicht daran glauben, daß sich Menschen innerlich diesem Frieden verschließen können und der Krieg gerade in der Nacht oft sein grausigstes Handwerk ausübt. Daß doch alle heimkehren möchten in den Frieden Gottes, wovon uns jeder Tag und jede Nacht Kunde gibt. Ist nicht auch der Schlaf ein Künder und Vorbote dieses Friedens? Für Haß und Bosheit hat er keinen Raum, alles Laute verstummt und alles Leid findet für Stunden ein erbarmendes Vergessen. „Was sich in Stolz verloren wird wieder klein und weich.“ Liegt nicht im Schlaf schon eine Anerkennung Gottes, ein vertrauendes Hineingehen in die Ordnung, die er geschaffen hat, auch dann wenn es unbewußt geschieht? Wir empfehlen uns und unsere Lieben vor jeder Nacht dem Schutze Gottes, vor den Gefahren, die Leib und Seele drohen; da das Böse unter dem bergenden Schleier des Dunkels seine Macht auszubreiten sucht. „Herr, bleibe bei uns, denn es will Abend werden und der Tag hat sich geneigt“ die Bitte der Emausjünger machen wir uns zu eigen; solange er mit uns geht, kann es für uns nie ganz dunkel werden, wenn auch in unserem Leben, in Volk und Kirche es manchmal Nacht zu werden droht und das Dunkel sein Licht mehr und mehr zu verdrängen scheint. Im
Evangelium des vorigen Sonntags hat er uns noch die frohmachende Gewißtheit gegeben: „Seht, ich bin bei euch bis ans Ende der Welt“. Ja, er wird bei uns bleiben und uns durch alles Licht und Dunkel unserer Tage und Nächte geleiten. Dürfen wir, Du und ich auch jenes andere Wort des Herrn auf uns beziehen, gleichsam als Antwort auf die Bitte um sein Bei-uns-bleiben: „Wo zwei in meinem Namen zusammen sind, da bin ich unter ihnen!“? Ja, so wollen wir mit Seiner Hilfe unsere Gemeinsamkeit bauen und gestalten, daß Er allzeit unter uns sein kann. In diesem heiligen Dreisein findet unsere Zweisamkeit erst ihre Vollendung.
Mein lieber August, nun ist es schon sehr spät und Du wirst gewiß schon lange schlafen. Meine letzten Gedanken gehen immer zu Dir ehe der Tag im Sprechen mit Gott seinen Abschluß findet. „Eine stille Nacht und ein gutes Ende gewähre uns der allmächtige Herr! Amen.“
So reiche ich Dir meine Hände zum abendlichen Gruß über den Raum der Trennung hinweg, lege sie in die Deinen hinein, auf daß Du etwas spürst von dem, was für Dich empfindet
Deine Marga.