Der „Steeler Kreis“
Der Begriff „Kreis“ für ihre immer auch wieder ausdrücklich als „Gemeinschaft“ bezeichnete Gruppe gaben sich katholische Jugendliche aus Essen-Steele selbst. Ursprünglich war dieser „Kreis“ wohl aus einer ehemaligen Gruppe der katholischen St. Georgs-Pfadfinder (PSG) hervorgegangen, der sich erst 1932 aus den Resten einer bis dahin aktiven Sturmschargruppe gebildet hatte und bis zu den stetig erweiterten Verboten der katholischen Jugendverbände in den Jahren 1936/37 bestand.
Als dann ab 1938 auch in der Steeler Pfarrei St. Laurentius die Jugendarbeit sich immer stärker am Ideal einer – zumindest offiziell - rein religiös ausgerichteten Pfarrjugend orientierte, fanden zunehmend auch Mädchen und junge Frauen den Weg in diese Gruppe und wurden schließlich auch zu Angehörigen des etwa zwölfköpfigen „Kreises“. Im Laufe des Krieges kamen vereinzelt weitere Personen hinzu. Die Altersstruktur war vergleichsweise „alt“, zählten viele der Beteiligten doch zu den Geburtsjahrgängen zwischen 1915 und 1923.
Die Sozialstruktur war gemischt, neben wenigen ehemaligen Gymnasiasten fanden sich Angestellte und Angehörige der Arbeiterschaft. Fast sämtliche männliche Gruppenmitglieder wurden als Soldaten zur Wehrmacht eingezogen. Das führte zwangsläufig dazu, dass es keine geschlossenen treffen vor Ort gab, sondern sich dort stets jene zusammenfanden, die gerade in essen auf „Heimaturlaub“ weilten. Eine besondere Rolle kam unter diesen Umständen natürlich den zurückbleibenden weiblichen Kreis-Angehörigen zu, weil sie sozusagen „die Stellung hielten“ und zu verlässlichen Anlaufstationen für die „Urlauber“ wurden.
Ganz wesentliche Teile des Gruppenlebens mussten jedoch über die Briefkonversation gestaltet werden: Hier wurde schriftlich diskutiert, geplant, sich über Neuigkeiten ausgetauscht und auf verschiedenste Art und Weise das initiiert, was die jungen Menschen unter „Gemeinschaft“ verstanden. Dabei war der „Kreis“ deutlich von anderen, rein männlichen strukturierten Jugendgruppen derselben Pfarrei zu unterscheiden, die sich aus jüngeren Mitgliedern der katholischen Jugendbewegung zusammensetzten. Zu diesen Gruppen, die vor dem Krieg teils von Mitgliedern des „Kreises“ geleitet worden waren, bestanden allerdings weiterhin enge, zum Teil auch briefliche Verbindungen, die häufig der Anleitung und Orientierung dienen sollten.
Die Mitglieder des „Kreises“, der in seinem Verhältnis zu den jüngeren Gruppen der Pfarrei vielleicht am ehesten als eine Art „Ältestenrat“ bezeichnet werden kann, schrieben sich untereinander häufig und vergleichsweise regelmäßig, allerdings ohne zuvor vereinbarte feste Struktur. Überliefert sind Briefe aus dem Besitz von fünf ehemaligen „Kreis“-Angehörigen, was insofern durchaus eine Besonderheit darstellt, weil man sich zumeist uni- oder bilateralen Briefbeständen begnügen muss.
Die Briefe sind im Rahmen eines großangelegten, stark auf Essen fokussierten Projekts des NS-Dokumentationszentrums der Stadt Köln zum Thema „Jugend in Deutschland 1918 bis 1945“ ausfindig und buchstäblich aus den Kellern der Zeitzeugen heraus der Forschung zugänglich gemacht worden.[1] Die multilaterale Herkunft der Briefe erlaubt vielseitige Einblicke in den damaligen Korrespondenzzirkel, lässt Meinungsverschiedenheiten und Diskussionen aus verschiedenen Perspektiven sowie Dynamiken von Vergemeinschaftungsprozessen erkennen.
Eine Besonderheit stellt der intensive Schriftwechsel zwischen Erich Bonsiepen und seiner späteren Frau Marianne Görres dar, die beide zum „Kreis“ gehörten, sich ineinander verliebten und nach dem Krieg heirateten. Aus dieser sehr umfassenden Korrespondenz wurden hier sämtliche Schriftstücke eingestellt; transkribiert davon ist hingegen erst ein – allerdings bereits recht großer Teil. Der Rest der Übertragung wird im Laufe der Zeit je nach den verfügbaren Kapazitäten nachgereicht. Erwähnt werden sollte auch der Teil der Korrespondenz, der von Hugo Kreutzer zur Verfügung gestellt wurde, denn er beinhaltet neben dem Briefwechsel innerhalb des „Kreises“ auch jenen mit seiner großen Familie, was die Möglichkeit eröffnet, auch andere Perspektiven von Wahrnehmung und Meinungsäußerungen in die Betrachtung einzubeziehen.
Mit drei ehemaligen Angehörigen des „Kreises“ konnten noch videogestützte Zeitzeugeninterviews geführt werden, die anschließend zu umfangreichen Lebensgeschichten verarbeitet wurden und hier ebenfalls zur Verfügung stehen. Es handelt sich hierbei um Marianne Bonsiepen, Anna Büse und Hugo Kreutzer.
Aus Essen-Steele liegen nicht nur die hier präsentierten umfangreichen Feldpostkonvolute vor, sondern zudem der komplette, nicht minder umfängliche schriftliche Familiennachlass der vier Brüder Kranz, der neben einer großen Zahl an Feldpostbriefen auch zahlreiche Tagebücher beinhaltet.
[1] Teile der Briefwechsel dienten bereits als Grundlage für eine Dissertation: Verena Kücking: „Das gemeinsame Band“. Schreiben als Praxis – Katholische Jugendgruppen im Zweiten Weltkrieg, Berlin 2018