Quellen – Zugänglichkeit und Bedeutung

Die Entstehungsgeschichte des bereits kurz vorgestellten Promotionsprojekts von Verena Kücking führt in aller Deutlichkeit das Dilemma vor Augen, mit dem sich die historische Forschung hinsichtlich einer gewinnbringenden Nutzung von Selbstzeugnissen konfrontiert sieht. Der Zugang zu ihrem Thema und insbesondere zu den für dessen Bearbeitung unverzichtbaren Quellen wurde Verena Kücking nur dadurch eröffnet, dass sie im NS-Dokumentationszentrum im Rahmen eines Forschungsprojekts zur Lage der Essener Jugend während des Nationalsozialismus ein wissenschaftliches Volontariat absolvierte, in dessen Verlauf sie intensiver mit jenen Quellen in Berührung kam, die im Projektkontext bei verschiedenen Zeitzeugen ermittelt, entliehen, reproduziert und in Teilen sogar bereits transkribiert worden waren. Erst dadurch wurde sie zu ihren Forschungen animiert und sah sich überhaupt erst in die Lage versetzt, sich mit vertretbarem Zeit- und Arbeitsaufwand mit der großen Zahl an Feldpostbriefen zu befassen, die ihr ansonsten nicht zugänglich gewesen wären. Durch den Projektkontext, die dabei im Rahmen ausführlicher lebensgeschichtlicher Interviews ermittelten Zusatzinformationen zu den Briefeschreiber*innen sowie ihren jeweiligen Lebens- und Motivlagen und weiteren Unterlagen wurde es Verena Kücking ermöglicht, die Briefwechsel zu kontextualisieren und aus den dabei gewonnenen Erkenntnissen sinnvolle und innovative Fragestellungen zu entwickeln.

Hierzu, so erklärte sie später, sei sie nicht zuletzt dadurch angeregt worden, dass ihr „schon bei der ersten Sichtung der Quellen eine ausgeprägte, das Gruppenleben betreffende Raum- und Netzwerkmetaphorik“ aufgefallen sei. „Das brachte mich dazu, die Briefe aus genau dieser Perspektive zu untersuchen. In der Umsetzung zeigt sich, dass sich tatsächlich sehr vielseitige gruppendynamische Prozesse aus den Quellen herausarbeiten lassen, die den derzeitigen Forschungsstand erweitern.“[1] So konnte die Autorin ihre Untersuchung zu dem Versuch gestalten, auf der Grundlage einer ganz spezifischen Quellengattung einen wichtigen Beitrag zu einer „Kulturgeschichte“ des Zweiten Weltkriegs zu leisten.[2] Mittels der Auswertung der Feldpostbriefe junger Katholik*innen wurde ein klarer Beleg für den Facettenreichtum von deren damaliger „sozialen Praxis“ innerhalb der „NS-Volksgemeinschaft“ erbracht. Der Quellenwert der von ihr genutzten Briefe, so Kücking in ihrer Einleitung, liege zudem darin, dass sie „Einblicke in subjektive Wahrnehmungen und Darstellungen des Kriegsgeschehens geben“ können und „eine unmittelbare Nähe zum Geschehen“ aufweisen würden, was die Forschung in die Lage versetze, unterschiedlichste Aspekte der Kriegsgeschichte „von innen“ zu durchdringen.

Die für ihre Promotion – partiell! - genutzten Briefe wurden für Verena Kücking nur aufgrund ihrer Tätigkeit im NS-Dokumentationszentrum zugänglich, während sie der Öffentlichkeit bislang verborgen und damit von der Forschung ungenutzt blieben. Die von ihr genutzten Materialien stellen jedoch nur einen Bruchteil der in den vergangenen Jahrzehnten zu diesem Themenkomplex vom NS-Dokumentationszentrum zusammengetragenen Materialien dar. All diesen bislang gesicherten Korrespondenzen, Tage- und Gruppenbüchern sowie Fotoalben ist gemein, dass in ihnen immer wieder zahlreiche Aspekte des Lebens im Krieg beschrieben werden und oftmals auch die Einstellungen der Jugendlichen gegenüber dem NS-Regime und seiner Ideologie zum Ausdruck kommen. Darüber hinaus werden naturgemäß auch immer wieder Dinge und Meinungen aus dem katholischen Milieu und seiner damaligen Gedankenwelt mitgeteilt. In den sechs Kriegsjahren wurden aus Jugendlichen zudem junge Frauen und Männer, die oftmals Beziehungen eingingen, sich verlobten und heirateten, was naturgemäß ebenfalls in den Selbstzeugnissen Niederschlag findet. So könnte auf ihrer Grundlage beispielsweise auch der Frage nachgegangen werden, inwieweit mit solchen Prozessen im Privatbereich auch eine Veränderung der Inhalte der Briefe und der Standpunkte von deren Verfasser*innen einherging. Insgesamt bieten die Feldpostkonvolute eine interessante Melange aus Privatem, Katholischem und Politischem, das es zu ergründen, zu erforschen und zu analysieren gilt. All das wird nunmehr mit der Freischaltung dieser Website ermöglicht.

Es sei aber ausdrücklich auch darauf hingewiesen, dass die so zugänglich gemachten Materialien nicht nur neue und interessante Zugänge zum Verständnis der katholischen Jugendbewegung während der NS-Zeit und insbesondere für die Zeit des Krieges und der unmittelbaren Nachkriegszeit eröffnen. Die „großen“ Ereignisse der Zeit spielen ebenso eine wichtige Rolle wie familiäre und persönliche Angelegenheiten. So hat sich Verena Kücking beispielsweise ganz auf das Kommunikationsnetzwerk des „Steeler Kreises“ konzentriert und alle privaten Angelegenheiten, die in den Briefwechseln in großer Zahl thematisiert werden, weil nicht zu ihrer Thematik zählend, völlig außer Acht gelassen. Das gilt etwa für die umfangreiche Korrespondenz, die Hugo Kreutzer mit seiner Familie führte. Insgesamt sind daher auch unter alltags- und mentalitätsgeschichtlicher Perspektive interessante neue Erkenntnisse zu erwarten.

Schließlich sei noch erwähnt, dass es sich jeweils um Kompletteditionen des verfügbaren Materials handelt. Es wurde nichts ausgewählt oder weggelassen, sondern all das zugänglich gemacht, was die von Zeitzeugen aus ihren Nachkommen überlassenen Konvolute enthielten. Es liegt eben nicht im Ermessen von Editoren, darüber zu entscheiden, was für künftige Forschungen „wichtig“ oder „unwichtig“ ist.

Fußnoten

[1] http://jugend1918-1945.de/portal/Jugend/info.aspx?bereich=projekt&root=19738&id=21260&redir=

[2] So Werner Jung, der Direktor des NS-Dokumentationszentrums, in seinem Geleitwort für die Arbeit.